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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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seinem Vater entgegentreten. Vielleicht lag es daran, dass Marie Kelly, in stummem
     Protest gegen seine Feigheit, ihre Kunden wieder auf der Straße suchte oder sich mit den anderen Huren im
Britain Pub
betrank, wo sie lautstark erst die Ohnmacht der Polizei verfluchten und dann diese Ausgeburt der Hölle, den Ripper, der sich
     immer noch über alle lustig machte, indem er zuletzt George Lusk, einem sozialistischen Aufwiegler, der sich selbst zum Präsidenten
     der Bürgerwehr von Whitechapel ernannt hatte, eine Pappschachtel mit einer menschlichen Niere darin zustellen ließ. Ärgerlich
     über sich selbst wegen seines mangelnden Mutes, sah Andrew sie jede Nacht betrunken ins Zimmerchen wanken. Bevor sie zu Boden
     fiel oder sich wie ein Hündchen vor dem Kamin zusammenrollte, nahm er sie in den Arm und legte sie ins Bett, glücklich, dass
     sie diese Nacht keinem Messer in die Quere gekommen war. Aber er wusste auch, dass sie so nicht weitermachen konnte, mochte
     der Mörder auch seit Wochen nicht mehr zugeschlagen haben, mochten auch achtzig Polizisten im Viertel auf Streife gehen. Und
     er wusste, dass allein er sie daran hindern konnte. Daher nahm Andrew, während er im Dunkeln saß und seine Geliebte ihre alkoholischen
     Albträume voller aufgeschlitzter Leiber träumte, sich fest vor, am nächsten Tag mit seinem Vater zu sprechen. Doch am nächsten
     Tag lief er nur vor dessen Arbeitszimmer auf und ab und traute sich nicht, einzutreten. Am Abend kehrte er dann beschämt und
     mit hängendem Kopf, manchmal hatte er auch eine Flasche dabei, zu Marie Kelly zurück und ertrug ihren stillen, vorwurfsvollen
     Blick. Da fiel Andrew wieder ein, was er zu ihr gesagt hatte, all die hochtrabenden |77| Worte, mit denen er ihre Vereinigung hatte besiegeln wollen: dass er seit achtzehn Jahren auf sie wartete, ach was, seit hundert,
     fünfhundert Jahren oder mehr; dass er sie in jeder einzelnen ihrer Inkarnationen gesucht habe, falls es solche gegeben haben
     sollte, weil sie dazu ausersehen waren, sich im Labyrinth der Zeit zu begegnen, und ähnlich platte Kommentare, die Marie Kelly
     unter den gegebenen Umständen nur als erbärmlichen Versuch ansehen konnte, mit schwülstiger Romantik zu verkleiden, was nichts
     anderes war als die nackte Begierde eines brünstigen Tieres oder, noch schlimmer, die Erregung zu verbergen, die ihm seine
     touristischen Ausflüge in die Schattenzone des Lebens bereiteten. «Wo ist deine ganze Liebe geblieben, Andrew?», schienen
     ihre Augen einer erschrockenen Gazelle sagen zu wollen, bevor sie sich in Richtung
Britain Pub
verlor und nach Stunden schwankend wieder zurückkam.
    Bis in der kalten Nacht des 7.   November, als er sie wieder einmal zur Spelunke davongehen sah, etwas in Andrews Innerem aufbrach. Vielleicht war es der Alkohol,
     der, im rechten Maß genossen, einigen Menschen manchmal zu vorübergehender Hellsicht verhilft; vielleicht hatte er aber auch
     einfach nur lange genug gewartet, und die erwähnte Hellsicht war ganz von allein aufgeblüht; jedenfalls erkannte Andrew jetzt,
     dass sein Dasein ohne Marie Kelly keinen Sinn hatte und er daher nichts verlor, wenn er für eine Zukunft mit ihr kämpfte.
     Von einer mächtigen Welle plötzlichen Mutes erfasst und mit einem Mal frei von der Last des trockenen Laubes, das seine Lungen
     verstopfte, stürmte er aus dem Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und eilte mit langen Schritten zu dem Platz, wo Harold |78| ihn zu erwarten pflegte, der die Vergnügungsnächte seines Herrn auf dem Kutschbock verbrachte, zusammengesunken wie eine Eule
     und die Kälte mit einer Flasche Cognac bekämpfend.
    In dieser Nacht würde Sir William Harrington feststellen müssen, dass sein jüngster Sohn sich in eine Hure verliebt hatte.

|79| V
    Ja, ich weiß. Zu Beginn habe ich Ihnen eine wunderbare Zeitmaschine angekündigt, und ich versichere Ihnen, es wird sie geben.
     Wir werden es noch mit mutigen Entdeckern und wilden Eingeborenenstämmen zu tun bekommen, die ja in keinem guten Abenteuerroman
     fehlen dürfen. Aber alles zu seiner Zeit. Muss man, bevor man eine Partie beginnt, nicht erst die Figuren aufstellen? Also
     erlauben Sie mir, dass ich das Brett einrichte und zum jungen Andrew zurückkehre, der den langen Weg nach Harrington Mansion
     dazu genutzt haben könnte, ein paar klare Gedanken zu fassen, stattdessen jedoch lieber sein Hirn noch mehr vernebelte, indem
     er die mitgeführte Flasche restlos leer trank. Es würde ihm nichts

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