Die Landkarte der Zeit
warten konnte.
Andrew trank und war vollauf damit beschäftigt, jeden Gedanken, den sein Hirn auszubrüten versuchte, zu verscheuchen und den
Tag verstreichen zu lassen. Er nahm seine Umwelt immer weniger wahr und näherte sich immer mehr dem Abgrund der Bewusstlosigkeit.
Er war jedoch noch nicht zu betrunken, um auf die Rufe eines Zeitungsverkäufers zu reagieren.
«Kaufen Sie den
Star
! Sonderausgabe! Jack the Ripper verhaftet!»
|93| Andrew sprang auf. Der Ripper verhaftet? Er konnte es nicht glauben. Er schaute durchs Fenster, versuchte einen klaren Blick
zu bekommen, erkannte einen Jungen, der an der Straßenecke Zeitungen verkaufte. Er rief ihn zu sich und kaufte ihm durchs
Fenster hindurch eine Zeitung ab. Mit zitternden Händen schob er ein paar Flaschen zur Seite und breitete die Zeitung auf
dem Tisch aus. Sein Gehör hatte ihn nicht getäuscht. «Jack the Ripper verhaftet!» lautete die Schlagzeile. In seinem betrunkenen
Zustand war das Lesen der Meldung eine langwierige, frustrierende Angelegenheit, doch mit viel Geduld und heftig blinzelnd
schaffte er es schließlich, sie zu entziffern. Demnach hatte Jack the Ripper in der vergangenen Nacht sein letztes Verbrechen
begangen. Das Opfer war eine irische Prostituierte namens Marie Jeannette Kelly, deren Leiche in dem von ihr gemieteten Zimmer
in Miller’s Court, Dorset Street 26, gefunden worden war. Andrew übersprang den nächsten Absatz, in dem mit großer Detailfreude
die Verstümmelungen beschrieben wurden, die der Mörder ihr beigebracht hatte, und fuhr mit dem Bericht über dessen Ergreifung
fort. Der Mörder, der das East End vier Monate lang in Schrecken versetzt hatte, hieß es in der Zeitung, war von George Lusk
und seinen Männern eine Stunde nach der schrecklichen Tat gefasst worden. Offenbar hatte ein Zeuge, der anonym bleiben wollte,
Marie Kellys Schreie gehört und die Bürgerwehr alarmiert. Die war leider zu spät in Miller’s Court eingetroffen, hatte den
Ripper aber in der Middelessex Street stellen können. Anfangs versuchte der Mörder die Tat zu leugnen, doch als man ihn durchsuchte
und in einer seiner Taschen das noch warme Herz seines Opfers fand, gab er alles zu. Der Mann hieß Bryan Reese |94| und arbeitete als Koch auf dem Handelsschiff SLIP, das im Juli, von Barbados kommend, im Londoner Hafen eingelaufen war und
in der nächsten Woche in Richtung Karibik auslaufen sollte. Als der mit den Ermittlungen beauftragte Frederick Abberline ihn
verhörte, hatte Reese nicht nur die ihm zur Last gelegten fünf Morde gestanden, sondern sich auch überaus erfreut darüber
gezeigt, dass er seinen blutigen Abschied in einem geheizten Zimmer hatte feiern können, da er es leid gewesen sei, immer
nur in kalten Gassen zu morden. «Als sie mir über den Weg lief, wusste ich, dass ich dieser betrunkenen Nutte folgen musste»,
hatte der Mörder angegeben und des Weiteren erklärt, auch seine Mutter, die genau wie seine Opfer der Prostitution nachgegangen
war, umgebracht zu haben, sobald er alt genug gewesen sei, mit einem Messer umzugehen. Diese Angabe, die sein Verhalten erklären
könnte, hieß es weiter, sei allerdings noch nicht überprüft worden. Die Zeitungsmeldung wurde durch ein Foto des Mörders vervollständigt,
sodass Andrew endlich das Gesicht des Mannes sehen konnte, mit dem er in der dunklen Passage der Hanbury Street zusammengestoßen
war. Ein normal aussehender, etwas korpulenter Mann mit gekräuselten Koteletten und einem dichten Schnauzbart. Trotz seines
etwas finsteren Blicks, der wahrscheinlich mehr als alles andere auf die Umstände zurückzuführen war, unter denen man ihn
fotografiert hatte, musste Andrew zugeben, dass dieser Mann wohl ein skrupelloser Mörder, aber ebenso gut ein ehrbarer Bäcker
sein konnte. Und natürlich war er weit von dem Aussehen eines Ungeheuers entfernt, das die Phantasie der Londoner ihm zugeschrieben
hatte. Auf den nächsten Seiten gab es weitere Meldungen im Zusammenhang mit der Verhaftung, |95| wie die Abdankung des Polizeichefs Sir Charles Warren, nachdem dieser das Versagen der Metropolitan Police in dem Fall eingeräumt
hatte, oder die Aussagen von Reeses erstaunten Kameraden, die auf dem Frachter befragt wurden; doch Andrew hatte alles erfahren,
was er wissen wollte, und kehrte zur ersten Seite zurück. Ihm wurde klar, dass er Marie Kellys Zimmer nur wenige Augenblicke
nach dem Verschwinden des Mörders erreicht hatte und kurz
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