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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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einziger furchtbarer Schmerz, seinen Körper zu bewohnen, als wäre dieser
     plötzlich ein von innen mit langen Dornen gespickter Sarg. Er wollte sich selbst entfliehen, sich der schmerzenden Materie
     entledigen, aus der er gemacht war, aber er war in seinem verwundeten Fleisch gefangen. Voller Schrecken fragte er sich, ob
     er für immer würde mit diesem Schmerz leben müssen. Irgendwo hatte er gelesen, dass auf der Netzhaut der Toten das letzte
     Bild zurückblieb, das sie gesehen hatten. War in den Augen von Marie Kelly das bestialische Grinsen des Rippers eingebrannt?
     Er wusste es nicht, doch sicher wusste er, dass, falls diese Regel existierte, er die Ausnahme sein würde. Ganz gleich, was
     er noch sehen würde, wenn er stürbe, stände in seinen Augen das schrecklich zugerichtete Gesicht von Marie Kelly.
    Er besaß weder den Willen noch die Kraft, sich gegen den Schmerz aufzulehnen, und so ließ er die Zeit verstreichen, ohne dass
     sie ihn berührte. Manchmal hob er den Kopf aus seinen Händen und stieß ein wütendes Geheul aus, mit dem er der Welt kundtat,
     dass das ganze, nicht mehr rückgängig zu machende Geschehen nur ein Irrtum sein konnte; andere Male stieß er unzusammenhängende
     Drohungen gegen den Ripper aus, der ihm möglicherweise gefolgt war, schon am Eingang der Gasse mit dem Messer auf ihn wartete
     und sich an seiner Angst weidete. Die meiste Zeit jedoch lag er in Grauen versunken wimmernd auf der Erde und nahm nichts
     mehr wahr.
     
    |91| Der neue Tag, der träge die Dunkelheit vertrieb, ließ ihn wieder halbwegs zu Sinnen kommen. Die heranplätschernden Geräusche
     des Lebens drangen vom Eingang der Gasse zu ihm. Zitternd vor Kälte kam er auf die Beine und ging, die abgewetzte Jacke seines
     Dieners eng um sich gezogen, auf die schon erstaunlich belebte Straße hinaus.
    Als er die Fahnen an den Hausfassaden sah, fiel Andrew ein, dass dies der Tag der Amtseinführung des neuen Bürgermeisters
     war. Er ging möglichst aufrecht weiter und mischte sich unter die Leute. Seine Kleidung war zwar verdreckt, aber nicht weiter
     auffällig als die jedes Bettlers. Er wusste nicht, wo er war, doch das störte ihn nicht, da er ebenso wenig wusste, wohin
     er gehen oder was er tun sollte. Das erste Wirtshaus, an dem er vorbeikam, schien ihm ein ebenso gutes Ziel zu sein wie jedes
     andere. Am besten ließ er sich im Strom der Menschen zum Justizpalast treiben, wo man James Whitehead, den neuen Bürgermeister,
     in seiner Kutsche würde vorfahren sehen. Der Alkohol würde ihm helfen, die sich in seinen Eingeweiden ausdehnende Kälte zu
     vertreiben und seine Gedanken so weit zu verwirren, dass sie nicht mehr gefährlich waren. Die Kneipe war halb leer. Aus der
     Küche drang ein heißer Geruch von gebratenen Würstchen und Speck, der ihm den Magen umzudrehen drohte, sodass er sich an einen
     weit entfernten Ecktisch flüchtete und eine Flasche Wein bestellte. Er musste erst eine Handvoll Pfundnoten auf den Tisch
     legen, um das Misstrauen des Kellners zu beseitigen. Die übrige Kundschaft bestand aus ein paar Stammgästen, die schweigend
     tranken und sich um den Tumult auf den Straßen nicht kümmerten. Einer von ihnen begegnete seinem |92| Blick, und Andrew fühlte den Schreck wie einen Stromstoß in sich fahren. War das vielleicht der Ripper? Sollte er ihm gefolgt
     sein? Doch dann beruhigte er sich wieder, als er feststellte, dass der Mann eine viel zu kümmerliche Figur hatte, um jemandem
     gefährlich werden zu können. Seine Hand aber zitterte immer noch, als er zur Weinflasche griff. Er wusste jetzt, wozu der
     Mensch fähig war, jeder Mensch, selbst dieses Männchen dort, das friedlich sein Bier trank. Vermutlich hätte er nicht die
     Bemalung der Sixtinischen Kapelle zuwege gebracht; aber das hieß nicht, dass er nicht Verstand genug besaß, um einen Menschen
     auszuweiden und die Innereien um dessen Körper herum zu drapieren. Er warf einen Blick aus dem Fenster. Die Menschen eilten
     daran vorbei, in ihrem Alltagstrott gefangen, ohne aufzumerken. Warum hielten sie nicht inne und machten sich klar, dass die
     Welt kein bewohnbarer Ort mehr war? Andrew stieß einen tiefen Seufzer aus. Nur für ihn hatte sich die Welt verändert. Er lehnte
     sich auf seinem Stuhl zurück, um sich in Ruhe zu betrinken. Danach würde er weitersehen. Er schaute auf sein Geld. Er schätzte,
     dass es reichte, um die gesamten Alkoholreserven der Kneipe auszutrinken, sodass jeder andere Plan erst einmal

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