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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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nützen, seinem Vater mit klaren Gedanken und zusammenhängender
     Rede entgegenzutreten, denn er war sich sicher, dass ein zivilisiertes Gespräch in dieser Angelegenheit nicht möglich war.
     Viel wichtiger war es, sich so weit wie möglich zu betäuben und gerade so viel Nüchternheit zu bewahren, dass er beim Sprechen
     nicht lallte. Es lohnte sich nicht einmal, sich umzuziehen. Die elegante Kleidung, die er vorsichtshalber immer dabeihatte,
     konnte er ruhig in der Kutsche liegenlassen. In dieser Nacht brauchte kein Geheimnis gewahrt zu bleiben. Als sie das Anwesen
     erreichten, stieg Andrew aus der Kutsche, |80| bat Harold, sich nicht von der Stelle zu bewegen, und lief zum Haus. Wie er ihn in den zerlumpten Kleidern die Treppe hinaufeilen
     sah, schüttelte der Kutscher fassungslos den Kopf und fragte sich, ob man Sir Williams Geschrei bis zu ihm nach draußen hören
     würde.
    Andrew erinnerte sich erst wieder, dass sein Vater an diesem Abend eine Besprechung mit Unternehmern hatte, als er in die
     Bibliothek hineinstolperte und ihn ein Dutzend Männer ungläubig anstarrten. Das war nicht die Situation, die er erwartet hatte;
     aber ihm rann mittlerweile zu viel Alkohol durch die Adern, als dass er sich ins Bockshorn hätte jagen lassen. Er suchte seinen
     Vater in diesem Wald von Anzugträgern und erblickte ihn schließlich am Kamin neben seinem Bruder Anthony. Beide musterten
     ihn verblüfft von Kopf bis Fuß, jeder mit einem Glas in der einen und einer Zigarre in der anderen Hand. Doch seine Kleidung
     war noch das am wenigsten Verwunderliche, wie sie bald feststellen würden, sagte sich Andrew, ganz zufrieden darüber, dass
     er Publikum hatte. Wenn sie sich schon zerfleischten, dann besser inmitten von Zeugen als mit seinem Vater allein im Arbeitszimmer.
     Unter den aufmerksamen Blicken der Versammelten räusperte er sich geräuschvoll und sagte:
    «Vater, ich möchte dir mitteilen, dass ich mich verliebt habe.»
    Abgesehen vom Hüsteln eines der Gäste, folgte seiner Erklärung ein Abgrund von Schweigen.
    «Andrew, ich glaube nicht, dass dies der passende Augenblick ist, um   …», begann sein Vater sichtlich verärgert, doch Andrew stoppte ihn mit einer unerwartet autoritären Handbewegung.
    |81| «Ich versichere dir, Vater, dieser Augenblick ist ebenso schlecht wie jeder andere», sagte er und versuchte das Gleichgewicht
     zu wahren, um seinen gewagten Auftritt nicht auf dem Fußboden liegend zu beenden.
    Sein Vater machte ein verdrossenes Gesicht, zwang sich aber zur Ruhe. Andrew holte tief Luft. Der Moment war gekommen, sein
     Leben für immer zu zerstören.
    «Und die Frau, die mein Herz gestohlen hat», sagte er, «ist eine Prostituierte aus Whitechapel namens Marie Kelly.»
    Nachdem er es ausgesprochen hatte, schaute er die Anwesenden herausfordernd an. Es gab erschrockene Gesichter, Hände an Köpfen,
     hochgeworfene Arme, doch niemand sagte etwas. Es war natürlich William Harrington, der sprechen musste, da es sich um ein
     Drama für zwei Personen handelte, dem sie da beiwohnten. Aller Blicke waren auf den Gastgeber gerichtet. Sein Vater starrte
     kopfschüttelnd auf das Teppichmuster und stieß ein heiseres Knurren aus, dann stellte er sein Glas tastend auf dem Kaminsims
     ab, als würde es ihn plötzlich stören.
    «Im Gegensatz zu dem, was ich so oft von Ihnen gehört habe, Gentlemen», fuhr Andrew, den aufkeimenden Zorn seines Vaters ignorierend,
     fort, «führen die Huren ihr Leben nicht, weil sie lasterhaft sind. Ich versichere Ihnen, dass sie lieber heute als morgen
     einer anständigen Arbeit nachgehen würden. Aber sie haben keine Wahl, glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.» Die Geschäftsfreunde
     seines Vaters übten sich immer noch in der Kunst, Überraschung zu äußern, ohne den Mund aufzumachen. «Ich habe in den letzten
     Wochen viel Zeit bei ihnen zugebracht. Ich habe gesehen, wie sie sich |82| morgens in den Pferdetränken wuschen und wie sie im Sitzen schliefen, wenn sie kein Bett bezahlen konnten, von einem Seil
     an der Wand gehalten, damit sie nicht umkippten   …»
    Je mehr er sich in seine Rede über die Huren hineinsteigerte, umso deutlicher erkannte Andrew, dass das, was er für Marie
     Kelly empfand, viel tiefer ging, als er sich vorgestellt hatte. Mit unendlichem Mitleid betrachtete er all diese Männer mit
     ihrem geordneten Leben, ihren faden Existenzen, in denen es keine Erschütterungen gab und die nie auf den Gedanken kämen,
     sich wilder

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