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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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aber auch aus bitterer Erfahrung, dass Kirmessen und
     Zirkusse oft das letzte Refugium jener Unglücklichen waren, die mit einer körperlichen Deformation geboren und von der Gesellschaft
     ausgestoßen waren. Treves besuchte den Zirkus ohne große Erwartungen, getrieben allein von beruflicher Neugier, der er sich
     nicht zu entziehen vermochte. Doch der Elefantenmensch war kein Trick. Nach der etwas peinlichen Vorstellung eines Artistenpaars
     wurde das Licht gedämpft, und Trommeln begannen in einer nachgemachten Negermusik zu dröhnen, die den Zuschauern dennoch ein
     einmütiges Frösteln über den Rücken laufen ließ. Und dann schaute Treves verblüfft zu, wie die Sensation des Abends in die
     Arena stolperte, und musste sich eingestehen, dass alle Gerüchte untertrieben waren. Dieser verunstaltete Mensch, der sich
     dort hinkend durch die Arena bewegte, war ein gänzlich asymmetrisches |191| Wesen, einem schaurigen Wasserspeier ähnlich. Nach der Vorstellung überredete Treves den Zirkusbesitzer, ihm ein Gespräch
     mit der Kreatur zu ermöglichen. Als er Merrick in dessen Zirkuswagen gegenüberstand, glaubte er, es mit einem geistig Zurückgebliebenen
     zu tun zu haben, da er überzeugt war, dass die monströsen Schädelauswüchse unweigerlich das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen
     haben mussten. Aber er irrte sich. Er brauchte nur wenige Worte mit Merrick zu wechseln, um zu erkennen, dass sich unter dem
     furchtbaren Äußeren ein gebildeter, gefühlvoller Mensch verbarg. Dieser erklärte ihm, dass er den Namen Elefantenmensch einer
     etwa zwanzig Zentimeter langen Wucherung verdanke, die von der Nase und Oberlippe herabhing und eine Art Rüssel bildete, der
     normales Essen unmöglich machte und den man ihm vor einigen Jahren in einer unglücklich verlaufenen Operation entfernt hatte.
     Treves war gerührt von der tiefen Sanftmütigkeit dieses Geschöpfs, das trotz allen Leids und aller Demütigungen, die es hatte
     erdulden müssen, keinerlei Groll gegen die Menschheit zu hegen schien.
    Als er ihn eine Stunde später verließ, war er entschlossen, alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen, um Merrick dort
     herauszuholen und ihm ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Sein Beweggrund war klar: In keinem anderen Hospital der
     Welt gab es ein Wesen mit annähernd so abscheulichen Verunstaltungen, wie Merrick sie hatte. Welcher Art seine Krankheit auch
     sein mochte, sie hatte unter allen Bewohnern des Planeten diesen einen Körper auserkoren, um sich in ihm einzunisten. Das
     machte den Unglücklichen zu einem einzigartigen Wesen, zu einem nirgends sonst zu findenden Schmetterling, der |192| vor der Welt geschützt werden musste. Es war klar, dass Merrick in dem Zirkus verkam und sich so schnell wie möglich in die
     Hände der Wissenschaft begeben musste. Treves ahnte zu dieser Zeit noch nicht, dass er, um sein Ziel zu erreichen, einen beschwerlichen
     Kreuzzug würde führen müssen, der ihn alle Kraft kostete. Als Erstes führte er Merrick der Pathologischen Gesellschaft vor,
     was jedoch nur zur Folge hatte, dass die ehrbaren Mitglieder eine Reihe abstruser Untersuchungen an dem Patienten vornahmen,
     sich dann aber in ebenso hitzige wie fruchtlose Debatten über die Art seiner mysteriösen Krankheit verwickelten, die nicht
     selten in Beschimpfungen ausarteten, weil es immer einen gab, der bei solchen Gelegenheiten alte Zwiste wiederbelebte. Die
     Uneinigkeit der Kollegen entmutigte Treves jedoch nicht, sondern bewog ihn, weiterzumachen, da es den Fall umso interessanter
     machte und gebotener denn je erscheinen ließ, Merrick der unsicheren Welt der Schausteller zu entreißen. Als Nächstes hatte
     er versucht, ihn in dem Krankenhaus unterzubringen, in dem er arbeitete und wo er adäquat untersucht werden konnte. Unglücklicherweise
     nahm kein Hospital chronisch Kranke auf. Die Geschäftsleitung des Krankenhauses lobte zwar das Vorhaben des Chirurgen, doch
     waren ihr die Hände gebunden. Merrick selbst schlug ihm angesichts seiner unhaltbaren Situation vor, ihm einen Posten als
     Leuchtturmwärter oder eine ähnlich menschenferne Tätigkeit zu verschaffen. Treves gab sich jedoch nicht geschlagen. Als letztes
     Mittel wandte er sich an die Presse, und in wenigen Wochen gelang es ihm, mit der traurigen Geschichte des Mannes, den man
     den Elefantenmenschen nannte, das ganze Land zu rühren. Es regnete Spenden, aber Treves |193| wollte nicht nur Geld; er wollte eine anständige Bleibe für

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