Die Landkarte der Zeit
aber auch aus bitterer Erfahrung, dass Kirmessen und
Zirkusse oft das letzte Refugium jener Unglücklichen waren, die mit einer körperlichen Deformation geboren und von der Gesellschaft
ausgestoßen waren. Treves besuchte den Zirkus ohne große Erwartungen, getrieben allein von beruflicher Neugier, der er sich
nicht zu entziehen vermochte. Doch der Elefantenmensch war kein Trick. Nach der etwas peinlichen Vorstellung eines Artistenpaars
wurde das Licht gedämpft, und Trommeln begannen in einer nachgemachten Negermusik zu dröhnen, die den Zuschauern dennoch ein
einmütiges Frösteln über den Rücken laufen ließ. Und dann schaute Treves verblüfft zu, wie die Sensation des Abends in die
Arena stolperte, und musste sich eingestehen, dass alle Gerüchte untertrieben waren. Dieser verunstaltete Mensch, der sich
dort hinkend durch die Arena bewegte, war ein gänzlich asymmetrisches |191| Wesen, einem schaurigen Wasserspeier ähnlich. Nach der Vorstellung überredete Treves den Zirkusbesitzer, ihm ein Gespräch
mit der Kreatur zu ermöglichen. Als er Merrick in dessen Zirkuswagen gegenüberstand, glaubte er, es mit einem geistig Zurückgebliebenen
zu tun zu haben, da er überzeugt war, dass die monströsen Schädelauswüchse unweigerlich das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen
haben mussten. Aber er irrte sich. Er brauchte nur wenige Worte mit Merrick zu wechseln, um zu erkennen, dass sich unter dem
furchtbaren Äußeren ein gebildeter, gefühlvoller Mensch verbarg. Dieser erklärte ihm, dass er den Namen Elefantenmensch einer
etwa zwanzig Zentimeter langen Wucherung verdanke, die von der Nase und Oberlippe herabhing und eine Art Rüssel bildete, der
normales Essen unmöglich machte und den man ihm vor einigen Jahren in einer unglücklich verlaufenen Operation entfernt hatte.
Treves war gerührt von der tiefen Sanftmütigkeit dieses Geschöpfs, das trotz allen Leids und aller Demütigungen, die es hatte
erdulden müssen, keinerlei Groll gegen die Menschheit zu hegen schien.
Als er ihn eine Stunde später verließ, war er entschlossen, alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen, um Merrick dort
herauszuholen und ihm ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Sein Beweggrund war klar: In keinem anderen Hospital der
Welt gab es ein Wesen mit annähernd so abscheulichen Verunstaltungen, wie Merrick sie hatte. Welcher Art seine Krankheit auch
sein mochte, sie hatte unter allen Bewohnern des Planeten diesen einen Körper auserkoren, um sich in ihm einzunisten. Das
machte den Unglücklichen zu einem einzigartigen Wesen, zu einem nirgends sonst zu findenden Schmetterling, der |192| vor der Welt geschützt werden musste. Es war klar, dass Merrick in dem Zirkus verkam und sich so schnell wie möglich in die
Hände der Wissenschaft begeben musste. Treves ahnte zu dieser Zeit noch nicht, dass er, um sein Ziel zu erreichen, einen beschwerlichen
Kreuzzug würde führen müssen, der ihn alle Kraft kostete. Als Erstes führte er Merrick der Pathologischen Gesellschaft vor,
was jedoch nur zur Folge hatte, dass die ehrbaren Mitglieder eine Reihe abstruser Untersuchungen an dem Patienten vornahmen,
sich dann aber in ebenso hitzige wie fruchtlose Debatten über die Art seiner mysteriösen Krankheit verwickelten, die nicht
selten in Beschimpfungen ausarteten, weil es immer einen gab, der bei solchen Gelegenheiten alte Zwiste wiederbelebte. Die
Uneinigkeit der Kollegen entmutigte Treves jedoch nicht, sondern bewog ihn, weiterzumachen, da es den Fall umso interessanter
machte und gebotener denn je erscheinen ließ, Merrick der unsicheren Welt der Schausteller zu entreißen. Als Nächstes hatte
er versucht, ihn in dem Krankenhaus unterzubringen, in dem er arbeitete und wo er adäquat untersucht werden konnte. Unglücklicherweise
nahm kein Hospital chronisch Kranke auf. Die Geschäftsleitung des Krankenhauses lobte zwar das Vorhaben des Chirurgen, doch
waren ihr die Hände gebunden. Merrick selbst schlug ihm angesichts seiner unhaltbaren Situation vor, ihm einen Posten als
Leuchtturmwärter oder eine ähnlich menschenferne Tätigkeit zu verschaffen. Treves gab sich jedoch nicht geschlagen. Als letztes
Mittel wandte er sich an die Presse, und in wenigen Wochen gelang es ihm, mit der traurigen Geschichte des Mannes, den man
den Elefantenmenschen nannte, das ganze Land zu rühren. Es regnete Spenden, aber Treves |193| wollte nicht nur Geld; er wollte eine anständige Bleibe für
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