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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Merrick. Dann beschloss er, sich an die königliche Familie zu
     wenden, die über all den absurden Gesetzen stand, welche die Gesellschaft einschnürten, und es gelang ihm, den Herzog von
     Cambridge und die Prinzessin von Wales dazu zu bringen, die Kreatur zu besuchen. Merricks Wohlerzogenheit und seine unwiderstehliche
     Sanftheit bewerkstelligten den Rest. So kam es, dass der Elefantenmensch als Dauergast in jenem Flügel des Hospitals untergebracht
     wurde, den sie nun betraten.
    «Hier ist Joseph glücklich», sagte Treves in plötzlich träumerisch gewordenem Ton. «Die Untersuchungen, die wir von Zeit zu
     Zeit an ihm vornehmen, bleiben zwar stets ohne Ergebnis, aber das scheint für ihn keine Bedeutung zu haben. Joseph ist überzeugt,
     dass für seine Verunstaltungen der Elefant verantwortlich ist, der seine Mutter niedergetrampelt hat, als diese im fortgeschrittenen
     Stadium der Schwangerschaft eine Parade anführte. Das Traurige an dieser Geschichte ist, Mr.   Wells, dass es sich dabei um einen Pyrrhussieg handelt. Ich habe zwar einen Platz für Merrick gefunden, kann aber das Fortschreiten
     seiner Krankheit nicht verhindern. Sein Schädel wächst von Tag zu Tag, weshalb ich befürchte, dass der Hals das unglaubliche
     Gewicht seines Kopfes schon bald nicht mehr wird tragen können.»
    Die Gefühllosigkeit, mit der Treves Merricks Tod ins Auge fasste, im Verein mit der düsteren Einsamkeit, die von diesem Flügel
     des Krankenhausgebäudes ausging, schnürte Wells schier die Luft ab.
    «Ich möchte, dass seine letzten Tage so friedlich wie möglich sind», fuhr der Chirurg fort, der für die zunehmende |194| Gesichtsblässe seines Begleiters keinen Blick hatte. «Aber das ist anscheinend zu viel verlangt. Manchmal versammeln sich
     Leute aus dem Viertel unter seinem Fenster und beschimpfen ihn oder machen sich über ihn lustig. Neuerdings machen sie ihn
     sogar für die Morde an all diesen Huren verantwortlich, die man aufgeschlitzt im Viertel findet. Hat eigentlich die ganze
     Welt den Verstand verloren? Merrick kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Er ist, wie schon gesagt, unglaublich sensibel.
    Ich nehme an, dass die Leute ihn deshalb besuchen, weil bei seinem Anblick selbst den Unglücklichsten klarwird, dass sie Gott
     eigentlich dankbar sein müssen. Joseph hingegen hat da eine ganz andere Sichtweise. Manchmal glaube ich, diese Besuche sind
     für ihn eine Art morbider Zeitvertreib. Jeden Samstag, nachdem er die Zeitungen der Woche durchgeblättert hat, gibt Joseph
     mir eine Liste mit den Namen von Londoner Bürgern, die er zum Tee einladen möchte und denen ich gehorsamst seine Visitenkarte
     schicke. In der Regel sind es Aristokraten, erfolgreiche Unternehmer, Berühmtheiten wie Maler, Schauspieler und andere mehr
     oder weniger bekannte Künstler   … Personen jedenfalls, denen ein gewisser gesellschaftlicher Erfolg beschieden ist und die ihm zufolge noch eine letzte Bewährungsprobe
     zu bestehen haben: sein Aussehen zu ertragen. Wie schon gesagt, Joseph ist derartig verunstaltet, dass sein Aussehen bei denen,
     die ihn sehen, zwei gegensätzliche Empfindungen hervorruft: Mitleid oder Abscheu. Ich nehme an, dass die Reaktion seiner Besucher
     Joseph verrät, mit welcher Sorte von Mensch er es zu tun hat, ob einer ein gutes Herz hat oder im Gegenteil von Furcht und
     Komplexen befallen ist.»
    |195| Vor einer Tür am Ende des Korridors blieben sie stehen.
    «Hier ist es», sagte Treves und versank in ein kurzes, beinah andächtiges Schweigen. Dann schaute er Wells in die Augen und
     fügte in halb feierlichem, halb drohendem Ton hinzu: «Hinter dieser Tür erwartet Sie das erschreckendste Geschöpf, dass Sie
     wahrscheinlich je gesehen haben und je sehen werden. Doch liegt es an Ihnen, ob Sie einem Ungeheuer gegenüberstehen oder einer
     unglücklichen Kreatur.»
    Wells verspürte eine leichte Übelkeit.
    «Sie können noch umkehren, denn möglicherweise gefällt Ihnen nicht, was Sie über sich selbst herausfinden werden.»
    «Seien Sie unbesorgt», stammelte Wells.
    «Wie Sie wollen», sagte Treves mit dem Ton dessen, der seine Hände in Unschuld wäscht.
    Er zog einen Schlüssel aus der Tasche, schloss die Tür auf und schob Wells sachte, aber nachdrücklich ins Zimmer.
     
    Wells trat mit angehaltenem Atem ein. Er hatte kaum zwei Schritte ins Zimmer getan, da hörte er, wie der Chirurg die Tür hinter
     ihm abschloss. Er schluckte und schaute sich in dem Raum um, in den Treves ihn

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