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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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vielleicht eine Grimasse des Schreckens formen wollten, doch zugleich spürte er seine Augen feucht werden und wusste
     jetzt gar nicht mehr, woran er war. Das gegenseitige Mustern dauerte eine Ewigkeit, in der Wells hoffte, eine Träne vergießen
     zu können, einen Tropfen, der seinen ganzen Schmerz in sich barg, der Merrick und ihm selbst eine mitfühlende Seele zeigte.
     Doch die Feuchtigkeit, die in seine Augen gestiegen war, lief nicht über.
    «Möchten Sie, dass ich meine Kapuze überziehe, Mr.   Wells?», fragte Merrick sanft.
    Seine eigenartige Stimme, die den Worten eine flüssige Beschaffenheit verlieh, als flössen sie durch das lehmige Bett eines
     Baches, ließen Wells zusammenschrecken. War die Zeit, die Merrick seinen Besuchern zum Reagieren ließ, bereits verstrichen?
    «Nein   … das wird nicht nötig sein», murmelte er.
    Sein Gastgeber senkte und hob wieder mühsam den gewaltigen |199| Kopf; eine Geste, die Wells als zustimmend verstehen wollte.
    «Dann wollen wir jetzt den Tee einnehmen, sonst wird er noch kalt», sagte Merrick und begab sich zu dem Couchtischensemble,
     das in der Mitte des Zimmers stand.
    Wells konnte ihm nicht gleich folgen, so überwältigt war er von der Art und Weise, wie Merrick sich bewegen musste. Für diesen
     Menschen war jede Bewegung eine unendliche Anstrengung, stellte er fest, als er sah, welcher komplexen Abläufe es bedurfte,
     bis der Körper im Sessel ruhte. Er unterdrückte den Impuls, Merrick zu Hilfe zu eilen, da er fürchtete, ihn könne diese Geste,
     die man Alten und Krüppeln zuteilwerden lässt, unangenehm berühren. Im Vertrauen darauf, das Richtige zu tun, nahm Wells mit
     der größtmöglichen Natürlichkeit auf dem anderen Stuhl Platz. Ebenso musste er sich zwingen, still sitzen zu bleiben, derweil
     der andere den Tee einschenkte. Während er der Rolle des Gastgebers nachkam, führte Merrick die meisten Bewegungen mit der
     Hand aus, die nicht von der Krankheit befallen war, die Linke, was aber nicht hieß, dass die Rechte, die er für kleinere Handreichungen
     bei der Teezeremonie benutzte, untätig blieb. Wells beobachtete, wie diese Hand, unförmig und plump wie ein Gesteinsbrocken,
     den Deckel von der Zuckerdose abzunehmen und ihm den Teller mit Keksen zu reichen vermochte, und er musste innerlich applaudieren
     ob der erstaunlichen Geschicklichkeit, mit der Merrick sie zu bewegen wusste.
    «Ich freue mich, dass Sie gekommen sind, Mr.   Wells», sagte sein Gastgeber, nachdem er die kraftraubende Herausforderung, den Tee zu servieren, überstanden hatte, ohne
     einen Tropfen danebenzugießen. «So kann ich Ihnen |200| persönlich sagen, wie sehr mir Ihre Erzählung gefallen hat.»
    «Sie sind sehr freundlich, Mr.   Merrick», erwiderte Wells.
    Neugierig wegen des geringen Echos, das seine Erzählung hervorgerufen hatte, hatte Wells sie mindestens ein Dutzend Mal wieder
     und wieder gelesen, um den Grund für die einmütige Nichtbeachtung durch die Leser herauszufinden. Die Erzählung war, das sah
     er jetzt deutlich, eine ehrlose Kötelei: Sein Schreiben imitierte dreist den pseudogermanischen Stil Nathaniel Hawthornes,
     und sein Held, Dr.   Nebogipfel, war eine ebenso billige wie maßlose Kopie all der an sich schon übertrieben verrückten Wissenschaftler, die die
     Schauerromane bevölkerten. Trotzdem dankte er Merrick für das ausgesprochene Lob mit einem Lächeln falscher Bescheidenheit,
     fürchtete jedoch, dieses Lob könne das einzige bleiben, welches seiner Erzählung im Leben zugedacht würde.
    «Eine Zeitmaschine   …», sagte Merrick und dehnte das Wort genüsslich in die Länge. «Sie haben eine grandiose Phantasie, Mr.   Wells.»
    Etwas bestürzt bedankte sich Wells auch für diese neue Artigkeit. Wie viele Lobesworte würde er noch ertragen, bis er darum
     bäte, das Thema zu wechseln?
    «Wenn ich so eine Maschine wie Dr.   Nebogipfel besäße», fuhr Merrick träumerisch fort, «würde ich in das alte Ägypten reisen.»
    Wells ging die Antwort zu Herzen. Wie jeder Mensch hatte auch dieses Wesen seine Lieblingsepoche, wie es bestimmt auch eine
     Lieblingsfrucht oder ein Lieblingslied hatte.
    |201| «Warum?», fragte er freundlich lächelnd und Merrick Gelegenheit bietend, sich über seine Vorlieben zu verbreiten.
    «Weil die Ägypter Götter mit Tierköpfen verehrten», antwortete Merrick nicht ohne einen Anflug von Scham.
    «Warum, glauben Sie, hat Dr.   Nebogipfel seine Zeitmaschine nicht auch benutzt, um damit in

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