Die Landkarte der Zeit
sich sogar das Ohr
nicht mehr an seinem ursprünglichen Platz befand. Merrick war daher zu keinem anderen Gesichtsausdruck fähig als dem der wilden
Starre eines Totems. Die Asymmetrie seines Körpers hatte die Wirbelsäule nach rechts gebogen, wo das Gewicht der Organe ohnehin
schon übermäßig war, sodass |188| jeder seiner Bewegungen etwas Groteskes anhing. Damit nicht genug, hatte die Krankheit auch seine Haut grobporig und furchig
gemacht wie von Sonnenhitze gewellten Karton, sie mit Kratern, Ausstülpungen und warzenartigen Geschwulsten bedeckt. Obwohl
er anfangs an die Existenz eines solchen Wesens kaum hatte glauben können, fand er sie auf heimlich in den Klassenzimmern
zirkulierenden, Bediensteten des London Hospital gestohlenen oder abgekauften Fotografien bestätigt. In dieser Einrichtung
war Merrick jetzt untergebracht, nachdem man ihn ein halbes Leben lang in Zirkussen und schäbigen Kirmesbuden zur Schau gestellt
hatte.
Dass dieser Mensch ihn zum Tee eingeladen hatte, rief in Wells ein Gefühl zwischen Erstaunen und Beunruhigung hervor. Trotzdem
stand er zur verabredeten Zeit vor dem London Hospital, einem massigen, strengen Gebäude in Whitechapel. In der Eingangshalle
herrschte ein Gewimmel von hin und her eilenden Krankenschwestern und Ärzten. Voller Staunen beobachtete Wells eine Weile
dieses wie choreographierte Ameisengewimmel, als Dr. Treves erschien, der Chirurg, unter dessen Obhut Merrick stand. Frederick Treves war ein kleiner, überschwänglicher Mann von
fünfunddreißig Jahren, der sein kindliches Gesicht hinter einem mit botanischer Akkuratesse gestutzten Vollbart verbarg.
«Mr. Wells?», fragte er und versuchte die offenkundige Verunsicherung zu verbergen, die die fast beleidigende Jugendlichkeit seines
Besuchers bei ihm auslöste.
Wells nickte und konnte ein Achselzucken nicht unterdrücken, als wollte er sich damit entschuldigen, nicht das ehrwürdige
Alter mitzubringen, das Treves für den Besuch |189| seines Schützlings vorauszusetzen schien. Sogleich bereute er die absurde Geste, denn nicht er war es ja gewesen, der um eine
Audienz bei dem berühmten Patienten gebeten hatte, sondern genau umgekehrt.
«Ich danke Ihnen, dass Sie die Einladung von Mr. Merrick angenommen haben», sagte Treves und reichte ihm die Hand.
«Konnte ich mich weigern, die einzige Person kennenzulernen, die meine Geschichte gelesen hat?», scherzte er.
Treves nickte abwesend. Er hatte andere Sorgen. Täglich erfand die Welt neue und komplizierte Krankheiten, die seine ganze
Aufmerksamkeit, die übernatürliche Geschicklichkeit seiner Hände und seine zupackende Entschlossenheit in den Operationssälen
erforderten. Mit einer fast militärischen Kopfbewegung forderte er Wells auf, ihm eine Treppe hinauf zu folgen, die in den
ersten Stock des Krankenhauses führte.
Im oberen Stockwerk herrschte das gleiche geschäftige Hin und Her, doch Treves genügten ein paar Abbiegungen in immer dunklere
Korridore, um seinen Begleiter von diesem rhythmischen Tumult fortzubringen. Je weiter sie ins Innere des Krankenhauses vordrangen,
desto spezialisierter wurden ganz offensichtlich Abteilungen und Behandlungsräume, was zu einer beträchtlichen Abnahme der
Zahl sowohl von Patienten als auch Krankenschwestern führte, die auf den Fluren zu sehen waren. Wells verglich das gleichsam
erlöschende Leben um ihn her unwillkürlich mit der beunruhigenden Trostlosigkeit und Einsamkeit, die im Märchen stets die
Höhlen der Ungeheuer umgaben. Es fehlten bloß noch vom Himmel gefallene Vögel und abgenagte Knochen auf dem Boden.
|190| Treves berichtete ihm unterwegs, wie er seinen ungewöhnlichen Patienten kennengelernt hatte. Er sprach in einem leidenschaftslosen,
etwas leiernden Tonfall, der seinen Unmut verriet, immer wieder dieselbe Geschichte erzählen zu müssen. Er war vor vier Jahren,
kurz nach seiner Ernennung zum Chefarzt in der Chirurgie, über Merrick gestolpert. Auf einem unbebauten Grundstück neben dem
Krankenhaus hatte ein Zirkus sein Zelt aufgeschlagen, dessen Hauptattraktion, der Elefantenmensch, Gesprächsthema Nummer eins
in London war. Wenn die Gerüchte zutrafen, handelte es sich dabei um den verunstaltetsten Menschen der Welt. Treves wusste,
dass Zirkusleute Meister darin waren, mit Hilfe von allerlei bei schlechter Beleuchtung kaum zu erkennenden Hilfsmitteln und
Schminke selbstgemachte menschliche Sensationen vorzuführen; er wusste
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