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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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praktisch hineingestoßen hatte, nachdem er
     seine Rolle als dienstbarer Geist in dieser verstörenden Zeremonie zu Ende gespielt hatte. Er befand sich in einer geräumigen
     Wohnung aus mehreren hintereinanderliegenden Zimmern, vollgestellt mit ganz gewöhnlichen Möbeln. Wells blieb einen Moment
     stehen, da er glaubte, sein Gastgeber werde jeden Augenblick erscheinen, |196| doch da dies nicht geschah, begann er eine zaghafte Wanderung durch die Zimmer. Sofort beschlich ihn das unbehagliche Gefühl,
     Merrick beobachte seine Bewegungen, hinter einem der Wandschirme verborgen. In einem der Zimmer stieß er auf einen Couchtisch
     mit zwei Stühlen, hergerichtet, um dort den Tee einzunehmen. Dieser harmlose Anblick verwirrte ihn noch mehr, verglich er
     ihn doch unwillkürlich mit den Richtplätzen, die mit unheilvoll im Frühlingswind wehenden Fahnen auf den Verurteilten warten.
     Sein Blick fiel auf ein merkwürdiges Objekt, das nahe am Fenster auf einem Wandtisch stand. Es handelte sich um das aus Karton
     gefertigte Modell einer Kirche. Wells nahm es in Augenschein und betrachtete voll staunender Bewunderung die erlesene Arbeit.
     Fasziniert von der Detailfülle des Modells, entging ihm zunächst, dass sich über die Wand der unförmige Schatten eines schief
     nach rechts geneigten Körpers mit gewaltigem Schädel schob.
    «Das ist die Kirche auf der anderen Straßenseite. Die Teile, die ich vom Fenster aus nicht sehen kann, musste ich nach der
     Vorstellung machen.»
    Die Stimme klang schleimig, gedehnt.
    «Eine wundervolle Arbeit», murmelte Wells, sich der klobigen Silhouette zuwendend, die das Sonnenlicht auf die Wand warf.
    Der Schatten schüttelte mühsam den schweren Kopf. Nach dieser ermüdenden Geste schwieg Merrick, auf seinen Stock gestützt,
     und Wells begriff, dass er ihm nicht länger den Rücken zukehren konnte. Der Moment war gekommen, in dem er sich umdrehen und
     seinen Gastgeber ansehen musste. Treves hatte ihn darauf hingewiesen, |197| dass Merrick die erste Reaktion seiner Gäste besonders aufmerksam beobachtete; diese Reaktion, die fast reflexhaft kam und
     die er daher für wahrhaftiger hielt als den Ausdruck, der sich auf die Gesichter legte, nachdem sich die Besucher von der
     ersten Überraschung erholt hatten. Während dieser kurzen Zeit hatte Merrick das seltene Privileg, in die Seele seiner Gäste
     zu schauen, und ganz gleich, was einer in dem nachfolgenden Gespräch zu sein vorgab, seine erste Reaktion hatte ihn bereits
     verdammt oder erlöst. Wells konnte nicht absehen, welche Wirkung Merricks Erscheinung auf ihn haben, ob sie Mitleid oder Abscheu
     in ihm auslösen würde, und da er fürchtete, Letzteres könne der Fall sein, presste er die Kiefer so fest aufeinander, wie
     er konnte, und gab seinem Gesicht die ganze Anspannung, die es brauchte, damit keinerlei Ausdruck sich darin festsetzen konnte.
     Es sollte nicht einmal Überraschung ausdrücken. Er wollte nur möglichst viel Zeit gewinnen, damit sein Verstand verarbeiten
     konnte, was er zu sehen bekäme, und auf rationale Weise das Gefühl bestimmen, das in einem Menschen wie ihm ein so gründlich
     verunstaltetes Wesen weckte, wie Merrick es anscheinend war. Empfände er am Ende Abscheu, würde er es hinnehmen und später
     darüber nachdenken, wenn er wieder draußen wäre. Also holte Wells tief Luft, stellte sich mit beiden Füßen fest auf den schwankenden
     Untergrund, in den sich der Boden plötzlich verwandelt hatte, und drehte sich langsam um, um seinen Gastgeber anzusehen.
    Der Anblick nahm ihm den Atem. Wie Treves schon gesagt hatte, verliehen die Deformationen Merrick ein furchteinflößendes Äußeres.
     Die Fotografien, die er in der |198| Universität gesehen hatte und die das groteske Aussehen dieses Mannes durch einen gnädigen Nebel von Unschärfe milderten,
     hatten ihn nicht auf das vorbereitet, was er nun erblickte. Merrick stand auf einen Stock gestützt und trug einen dunkelgrauen
     Anzug mit Weste. Paradoxerweise jedoch ließ ihn diese Kleidung noch monströser erscheinen. Mit aufeinandergebissenen Zähnen
     stand Wells wie angewurzelt vor ihm und kämpfte gegen das Zittern seines Körpers an. Sein Herz drohte ihm die Brust zu sprengen,
     und ein Rinnsal von eisigem Schweiß rann ihm den Rücken hinab; aber er vermochte nicht herauszufinden, ob diese Symptome von
     Entsetzen oder von Mitleid hervorgerufen wurden. Trotz der Anspannung seines Gesichts spürte er, wie seine Lippen zu zittern
     begannen,

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