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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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befreit davon, glücklich sein zu müssen, konnte sich damit bescheiden, ein
     beschauliches Dasein zu führen und die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens zu genießen, ohne das geringste Gären von Frustration
     in seinen Eingeweiden zu spüren, denn so banal es auch sein würde, er konnte sich immer noch mit dem Gedanken trösten, ein
     ausgefülltes Leben an anderer Stelle zu führen, fern und doch in nächster Nähe, an einem unzugänglichen Ort, den man auf keiner
     Landkarte finden konnte, da er seine Kehrseite war. Mit einem Mal fühlte er sich unendlich erleichtert, als wäre ihm die Last
     abgenommen, die ihm, seit er das Licht der Welt erblickt hatte, auferlegt worden war. Er fühlte sich befreit, verantwortungslos,
     verrückt. Er verspürte eine unbändige Lust, sich wieder ins Leben einzumischen, wieder auf die Bahn einzuschwenken, auf der
     die Menschheit sich bewegte, einen Brief an Victoria Keller zu schreiben, oder an Madelaine, falls Victoria die Frau seines
     Cousins wäre, sie zum Essen oder ins Theater einzuladen oder zum Spazierengehen in einem Park, wo er |258| sie überraschen und seine Lippen auf die ihren drücken konnte, was er ja doch nicht tun würde. Genau so schien die Welt zu
     funktionieren, in der nichts ausgeschlossen war, in der alles passieren durfte, was passieren konnte. Selbst wenn er sich
     entschlösse, sie zu küssen, würde ein anderer Andrew dies verschmähen, würde den Abhang der Zeit hinunterschlittern, bis er
     bei anderen Lippen landete, um sich dann in einen weiteren Zwilling aufzuspalten, der nach immer neuen Vervielfachungen schließlich
     im Abgrund der Einsamkeit zerschellte.
    Es überraschte Andrew, dass die abgelegten Karten des Lebens nicht hinweggefegt wurden, wie die Sägespäne vom Besen des Schreiners,
     sondern jede einzelne eine neue Existenz schuf, die mit der wahren um die Wette eiferte, welche von ihnen die authentische
     sei. Ihm wurde schwindlig bei dem Gedanken, dass an den Kreuzungen, zu denen er auf seinem Weg gelangte, eine ganze Brut anderer
     Andrews das Licht der Welt erblickte und deren Leben neben seinem eigenen und über dieses hinaus verliefe, ohne dass er davon
     etwas bemerken würde, da es im Grunde die einfachen Sinne des Menschen waren, welche die Grenzen der Welt bestimmten. Aber
     was, wenn die Welt, wie der Kasten eines Zauberers, einen doppelten Boden besaß und tatsächlich über das hinausginge, was
     seine Sinne ihm als das Ende bezeichneten?
    Ein leichter Wind war aufgekommen, nahm ein Blatt von all denen, die auf dem Weg lagen, und ließ es, als wäre es ein Zaubertrick
     für einen einzigen Zuschauer, auf dem Wasser einer Pfütze tanzen. Gebannt schaute Andrew dem kreiselnden Blatt zu, bis der
     Schuh seines Cousins dem grazilen Tanz ein Ende bereitete.
    |259| «Fertig. Wir können losfahren», sagte Charles und hielt triumphierend seinen Hut in die Höhe, wie ein Jäger eine abgeschossene
     Ente hochhalten mochte.
    Als er es sich in der Kutsche bequem gemacht hatte, gewahrte er das abwesende Lächeln, das auf dem Gesicht seines Cousins
     leuchtete, und mit hochgezogener Augenbraue fragte er:
    «Geht es dir gut, Andrew?»
    Sein Cousin bedachte ihn mit einem Blick voller Zuneigung. Charles hatte Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, damit er, Andrew,
     Marie Kelly retten konnte, und er würde es ihm auf die beste Weise danken, die es gab: indem er am Leben blieb; zumindest
     so lange, bis sein letztes Stündlein schlug. Überreich würde er ihm zurückzahlen, was Charles ihm in all den vergangenen Jahren
     an Geduld und Mitgefühl entgegengebracht und worauf er mit beschämender Gleichgültigkeit und Ablehnung reagiert hatte. Er
     würde das Leben willkommen heißen wie ein unerwartetes Geschenk, würde es auskosten, so gut er es vermochte. Er würde das
     Leben wie einen angenehmen langen Sonntagnachmittag gestalten, an dem man auf die Abenddämmerung wartet.
    «Besser denn je, Charles», antwortete Andrew lebhaft. «Mir geht es so gut, dass ich eine Einladung zum Abendessen bei dir
     nicht ausschlagen würde; unter der Voraussetzung allerdings, dass deine reizende Gattin ihre nicht minder reizende Schwester
     dazu einlädt.»

|260| XVII
    Hier könnte der erste Teil der Geschichte enden, und für Andrew endet sie tatsächlich hier; aber dies ist ja nicht nur Andrews
     Geschichte. Wollte ich nur Andrews Geschichte erzählen, wäre mein Eingreifen gar nicht erforderlich; er könnte sie selbst
     erzählen, wie jeder Mensch

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