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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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und Neugier. Andrew lächelte etwas
     schüchtern zurück, und da niemand Anstalten machte, dem Bisherigen etwas hinzuzufügen, schaute er sich im Zimmer um, als suche
     er nach den mutmaßlichen Veränderungen, die sein Streich im Zeitgefüge der Gegenwart hätte hinterlassen können. Sein Blick
     fiel auf die Zigarrenkiste, die auf dem Tisch stand und, wie er sich erinnerte, den Zeitungsausschnitt enthielt. Die anderen
     folgten seinem Blick.
    «Wohlan», sagte Wells, der seine Gedanken erriet. «Sie haben einen Stein in stilles Wasser geworfen und können es nicht mehr
     abwarten, die Wellen zu sehen, die Ihre Tat hervorgerufen hat. Warten wir also nicht länger! Dies ist der Moment, um festzustellen,
     ob Sie tatsächlich die Vergangenheit verändert haben.»
    Seine Rolle als Zeremonienmeister wiederaufnehmend, schritt Wells zum Tisch, hob feierlich die Zigarrenkiste hoch und reichte
     sie Andrew, wobei er zugleich den Deckel aufklappte, wie ein König aus dem Morgenland, der seine Weihrauchgabe darbot. Andrew
     nahm den Zeitungsausschnitt heraus, wobei er sich bemühte, seine Hand nicht |250| allzu sehr zittern zu lassen, und faltete ihn mit dem Gefühl, sein Herz hätte zu schlagen aufgehört, auseinander. Doch als
     er damit fertig war, sah er dieselbe Schlagzeile vor sich, die er seit so vielen Jahren immer wieder gelesen hatte. Rasch
     überflog er den Inhalt, doch auch der war derselbe. Als wäre nichts geschehen, informierte der Artikel über den brutalen Mord
     an Marie Kelly, begangen von Jack the Ripper, der kurz darauf von der Bürgerwehr des Viertels gefasst worden war. Andrew schaute
     Wells fassungslos an. Das konnte doch nicht sein!
    «Ich habe ihn getötet», protestierte er nicht allzu überzeugt, «das hier stimmt nicht   …»
    Wells betrachtete nachdenklich das Zeitungsblatt. Aller Blicke waren auf ihn gerichtet, jeder erwartete eine klärende Antwort.
     Nach einigen Sekunden versonnenen Starrens auf das Papier entfuhr dem Schriftsteller ein verständiges Grunzen. Er straffte
     sich jäh und begann, ohne die Anwesenden eines Blickes zu würdigen, im Zimmer auf und ab zu gehen. Angesichts der beengten
     Verhältnisse konnte er nur mehrmals um den Tisch herumlaufen. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und nickte
     ab und zu bestätigend, als wollte er den Anwesenden damit zeigen, wie das Begreifen langsam in sein Gehirn vordrang. Schließlich
     blieb er düster lächelnd vor Andrew stehen.
    «Sie haben das Mädchen gerettet, Mr.   Harrington», sagte er im Brustton der Überzeugung, «daran kann es keinen Zweifel geben.»
    «Aber   …», stammelte Andrew, «warum ist sie dann noch tot?»
    «Weil sie weiterhin tot sein muss, damit Sie die Zeitreise |251| zu ihrer Rettung unternehmen», rief der Schriftsteller, als teile er etwas ganz Offensichtliches mit.
    Andrew blinzelte und begriff überhaupt nicht, worauf der Schriftsteller hinauswollte.
    «Denken Sie nach! Wären Sie zu mir gekommen, wenn die Kleine noch gelebt hätte? Begreifen Sie doch! Indem Sie ihren Mörder
     getötet und damit verhindert haben, dass sie zerstückelt wird, haben Sie auch den Grund für Ihre Reise zurück in die Vergangenheit
     eliminiert. Und ohne Zeitreise gibt es auch keine Veränderung. Beide Ereignisse sind untrennbar miteinander verbunden», erklärte
     Wells, mit dem Zeitungsausschnitt wedelnd, dessen unveränderte Schlagzeile seine Theorie bestätigte.
    Andrew schaute kopfschüttelnd die anderen an, die in derselben Ratlosigkeit verharrten wie er.
    «So kompliziert ist es doch gar nicht», amüsierte sich Wells über die Verwirrung seiner Zuhörer. «Ich will es Ihnen erläutern.
     Stellen Sie sich vor, was nach Ihrer Rückkehr in der Zeitmaschine passiert sein muss: Ihr anderes Ich ist zu Marie Kellys
     Zimmer gegangen, hat sie aber nicht aufgeschlitzt vorgefunden, sondern lebend vor der Leiche des Mannes kniend, den die Polizei
     kurz darauf als Jack the Ripper identifiziert. Glücklicherweise ist ein Rächer aus dem Nichts aufgetaucht und hat ihn umgebracht,
     bevor Ihre Geliebte die Reihe seiner Opfer vervollständigen konnte. Und dank dieses Unbekannten kann Andrew jetzt glücklich
     mit ihr zusammenleben, obwohl die Ironie des Schicksals es will, dass er nie erfährt, dass er dies Ihnen, das heißt sich selbst,
     verdankt.» Nach diesen Worten schaute Wells ihn erwartungsvoll an wie ein Kind, das einen Kirschkern in die Erde gelegt hat
     und nun darauf wartet, einen |252| Kirschbaum vor

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