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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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mit der Zeitmaschine? Werden Sie sie zerstören?», fragte Andrew zaghaft.
    Wells betrachtete ihn mit wohlwollendem Lächeln.
    «Ich glaube schon», antwortete er, «nachdem sie jetzt die Aufgabe erfüllt hat, für die sie erfunden worden ist.»
    Andrew nickte. Diese deutlichen Worte rührten ihn. Er hielt seine persönliche Tragödie zwar nicht für die einzige, die den
     Gebrauch der Maschine verdiente, die in Wells’ Hände gelangt war, aber er war doch dankbar, dass |255| der Schriftsteller, der ihn ja kaum kannte, sich so weit mit seinem Drama solidarisiert hatte, dass er es als hinreichendes
     Motiv betrachtete, die Gesetze der Zeit zu verletzen, das Zeitgefüge selbst zu verändern und damit die Welt in Gefahr zu bringen.
    «Ich glaube auch, dass dies das Beste ist, Mr.   Wells», sagte er, nachdem er wieder Herr seiner Gefühle geworden war, «denn Ihr Argwohn ist berechtigt. Bei meiner Rückkehr
     bin ich einem dieser Zeitwächter vor Ihrem Haus begegnet.»
    «Tatsächlich?», rief Wells überrascht.
    «Ja. Aber glücklicherweise habe ich ihn verjagen können», antwortete Andrew.
    Dann umarmte er den Schriftsteller mit aufrichtiger Hingabe. Wohlwollend betrachteten Charles und Jane die Szene, die, wäre
     Wells nicht wie ein Stock erstarrt, schlicht ergreifend gewesen wäre. Als die Umarmung schließlich ein Ende fand, verabschiedete
     auch Charles sich von dem Ehepaar und geleitete seinen Cousin nach draußen; nicht, dass der auf die Idee kam, noch einmal
     über den erstarrten Wells herzufallen.
    Andrew durchquerte wachsam das Gärtchen, die rechte Hand in der Tasche um den Revolvergriff geschlossen für den Fall, dass
     der Zeitwächter ihm in die Gegenwart gefolgt war und ihm irgendwo auflauerte. Doch nirgends eine Spur von ihm. Auf der Straße
     wartete die Kutsche, die sie nur wenige Stunden zuvor, die Andrew nun wie eine Ewigkeit vorkamen, hergebracht hatte.
    «Oh, ich habe meinen Hut vergessen», sagte Charles, als Andrew schon in der Kutsche saß. «Ich bin gleich zurück, mein Lieber.»
    |256| Sein Cousin nickte geistesabwesend und lehnte sich erschöpft in seinem Sitz zurück. Durch das Fensterchen der Kutsche betrachtete
     er die ihn umgebende Dunkelheit, in der unter dem heraufziehenden Tag das erste Licht zu glimmen begann. Wie das Gewebe einer
     Jacke sich an den Ellbogen verschleißt, zerfranste auch die Dunkelheit an den Ecken des Himmels, dessen Schwärze sich allmählich
     in ein immer weniger dunkles Blau zu verfärben begann, bis ein bleicher Glanz die Umrisse der Welt erkennbar werden ließ.
     Wenn man den Kutscher ausnahm, der auf seinem Bock zu dösen schien, konnte man sagen, dass dieses herrliche Schauspiel von
     goldenen und purpurnen Schleiern allein für ihn aufgeführt wurde. In den letzten Jahren hatte Andrew öfter, fast immer von
     den Wäldchen des Hyde Park aus, das majestätische Heraufziehen des Morgens beobachtet und sich dabei gefragt, ob dies der
     Tag seines Todes sein würde, der Tag, an dem der Schmerz so unerträglich würde, dass er sich das Leben nehmen müsste mit einem
     Revolver wie dem, den er jetzt in seiner Tasche trug und am Tag zuvor aus der Vitrine genommen hatte, ohne zu ahnen, dass
     er damit Jack the Ripper töten würde. Doch den Anbruch dieses Tages konnte er nicht betrachten und sich fragen, ob er ihn
     überleben würde, um zu sehen, was danach kam, da er jetzt die Antwort kannte. Er würde diesen Tagesanbruch und den nächsten
     und alle folgenden sehen, denn jetzt hatte er keinen Grund mehr, sich umzubringen, nachdem er Marie gerettet hatte. Sollte
     er seinen Plan aus purer Trägheit weiterverfolgen, oder einfach nur deswegen, weil er sich, wie Wells gesagt hatte, im falschen
     Universum befand? Das schien ihm kein ausreichender Grund zu sein, zumindest kein so edler, ganz |257| abgesehen davon, dass er sogar einen im Grunde absurden Neid auf seinen Zeitzwilling zum Vorschein brachte, da jener andere
     Andrew ja er selbst war und er dessen Glück mit derselben Befriedigung zur Kenntnis nehmen sollte wie sein eigenes. Er sollte
     sich freuen, an anderer Stelle glücklich zu sein; das Glück wenigstens in der Welt nebenan gefunden zu haben.
    Dieser Schluss brachte jedoch eine unerwartete Frage mit sich: Befreite einen das Wissen um ein glückliches Leben in einer
     anderen Welt von dem Streben danach in dieser Welt? Zuerst wusste er nicht, welche Antwort er sich darauf geben sollte, doch
     nach kurzem Nachdenken sagte er sich: Ja. Er war

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