Die Larve
blutete.
Auf dem weißen Totenhemd breiteten sich rote Rosen aus, Rosen aus Blut.
Zwei Sekunden vergingen, bis Harry kapierte, dass dieses Blut von ihm selbst stammte. Er fasste sich an den Hals und spürte etwas Klebriges, Feuchtes an seinen Fingern. Der Faden war gerissen.
»Dein T-Shirt«, sagte Harry.
»Was?«
»Ich muss mich ein bisschen verbinden.«
Harry hörte das Singen eines Reißverschlusses, und wenige Sekunden später segelte ein T-Shirt zu ihm nach unten ins Licht. Er griff danach und warf einen Blick auf die Aufschrift. »Studentische Rechtsberatung«. Mein Gott, was für ein Idealist, dachte Harry. Harry band sich das T-Shirt irgendwie um den Hals, ohne zu wissen, ob das etwas half, konnte im Augenblick aber nicht mehr tun. Dann beugte er sich über Gusto, packte mit beiden Händen das Leichenhemd und riss es auf. Der Körper war dunkel, leicht aufgedunsen, und aus den Einschusslöchern in der Brust krochen Larven.
Die Lage der Wunden stimmte mit dem Bericht des Rechtsmediziners überein.
»Gib mal die Schere.«
»Die Schere?«
»Ja, die Nagelschere.«
»Oh, Mist«, hustete Hans Christian. »Die habe ich vergessen. Vielleicht habe ich eine im Auto, soll ich …?«
»Nicht nötig«, sagte Harry und nahm das lange Springmesser aus seiner Jackentasche. Er löste die Sicherung, drückte auf den Auslöser, und die Klinge sprang mit einer derart brutalen Kraft heraus, dass der ganze Schaft bebte. Dann spürte er die perfekte Balance des Messers.
»Ich höre was«, sagte Hans Christian.
»Das ist ein Slipknot-Song«, sagte Harry. Pulse of the Maggots . Er summte leise.
»Nein, verdammt. Da kommt jemand!«
»Leg die Lampe so, dass ich etwas sehen kann, und hau ab«, sagte Harry, hob Gustos Hände an und studierte die Nägel der rechten Hand.
»Aber du …«
»Hau ab!«, sagte Harry. »Sofort.«
Dann hörte Harry Hans Christians Schritte, die sich eilig entfernten. Gustos Mittelfingernagel war kürzer als die anderen. Er studierte Zeige- und Ringfinger und sagte dann ruhig:
»Ich bin vom Beerdigungsinstitut, wir müssen noch ein bisschen nacharbeiten.«
Dann drehte er sein Gesicht dem blutjungen, uniformierten Wachmann zu, der am Rand des Grabes stand und nach unten blickte.
»Die Familie war mit der Maniküre nicht ganz einverstanden.«
»Raus da!«, befahl der Wachmann mit einem leisen Zittern in der Stimme.
»Warum denn?«, fragte Harry, nahm eine kleine Plastiktüte aus der Jackentasche und hielt sie unter den Ringfinger der Leiche, während er zu schneiden begann. Der Nagel leistete der Klinge kaum Widerstand, sie glitt wie durch Butter. Ein wirklich phantastisches Instrument. »Ihnen sind doch die Hände gebunden. Ihre Befugnis reicht nämlich nicht aus, um direkt gegen Eindringlinge vorzugehen. Leider.«
Harry nutzte die Spitze der Klinge, um trockene Reste unter der Unterseite des Nagels zu lösen.
»Sonst werden Sie gekündigt, und dann kriegen Sie auch keinen Platz mehr auf der Polizeischule und dürfen auch keine Pistole tragen oder aus Gründen der Notwehr von der Waffe Gebrauch machen.«
Harry fuhr mit dem Zeigefinger fort.
»Halten Sie sich an die Vorschriften, junger Mann. Und rufen Sie einen Erwachsenen bei der Polizei. Wenn Sie Glück haben, sind die in einer halben Stunde da. Zu viel Hoffnung sollten Sie sich aber nicht machen, vermutlich müssen Sie bis morgen früh warten, wenn der normale Dienst beginnt. So!«
Harry verschloss die Tüte, steckte sie in die Jackentasche, legte den Deckel wieder auf den Sarg und kletterte aus dem Grab. Er wischte sich die Erde vom Anzug, bückte sich und hob Spaten und Taschenlampe auf, als er die Lichter eines Autos bemerkte, das vor der Kapelle vorfuhr.
»Ganz im Gegenteil, die haben gesagt, dass sie gleich kommen«, sagte der junge Wachmann und wich sicherheitshalber noch einen Schritt zurück. »Ich habe ihnen nämlich gesagt, dass es sich um das Grab von dem Mordopfer handelt. Wer sind Sie?«
Harry schaltete die Lampe aus, und es wurde stockfinster.
»Der, den Sie anfeuern sollten«, sagte er und begann zu rennen.
Er lief nach Osten, weg von der Kapelle, in die Richtung, aus der er mit Hans Christian gekommen war, und peilte einen Lichtpunkt an, den er für eine Laterne im Frognerparken hielt. Schaffte er es bis in den Park, würde er ihnen mit ziemlicher Sicherheit entwischen können. Schließlich war er nie in besserer Form gewesen als jetzt. Wenn sie nur keine Hunde hatten! Denn Hunde hasste er. Harry versuchte auf
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