Die Larve
eines wütenden Raubtiers, der ihm klar zu verstehen gab, dass seine Arbeit längst noch nicht erledigt war.
Als Harry die Hand auf seinem Kopf gespürt hatte, hatte er instinktiv verstanden. Dieser Mann war weder ein Besoffener noch ein alter Bekannter, das war einer von ihnen. Die Hand rutschte ab, so dass Harry für eine Zehntelsekunde in den Spiegel blickte und das Aufblitzen des Messers registrierte. Er wusste, was der Angreifer vorhatte. Dann war die Hand auf seiner Stirn und drückte seinen Kopf nach hinten. Es war zu spät, Harry schaffte es nicht mehr, eine Hand zwischen Hals und Klinge zu bringen, und stemmte stattdessen seine Schuhe auf die Fußstange unten am Tresen, hob den Oberkörper mit einem Ruck an und drückte das Kinn auf die Brust. Er spürte es kaum, als die Klinge in seine Haut schnitt. Erst als sie die empfindsame Knochenhaut an seinem Kinn aufritzte, kamen die Schmerzen.
Dann hatte er im Spiegel den Blick des anderen eingefangen. Er hatte Harrys Kopf dicht zu sich herangezogen, so dass sie aussahen wie zwei Freunde, die gemeinsam für ein Foto posierten. Harry nahm wahr, dass er die Klinge mit all seiner Kraft nach unten in Richtung Hals schob, um sich einen Weg zu einer der beiden Schlagadern zu bahnen. Er wusste, dass es nur noch Sekunden dauern konnte, bis der Angreifer sein Ziel erreicht hatte.
Sergej legte seinen ganzen Arm um die Stirn des Mannes und riss ihn mit aller Kraft nach hinten. Der Kopf gab etwas nach, und im Spiegel sah er, dass die Klinge endlich den Spalt zwischen Kinn und Brust fand und über die Kehle in Richtung der Karotis – der Halsschlagader – glitt. Pling! Plötzlich hatte der Mann es geschafft, seine Hand zu heben und einen Finger zwischen Klinge und Schlagader zu schieben. Trotzdem, Sergej wusste, dass die rasiermesserscharfe Klinge sich durch jeden Finger schnitt, wenn er nur richtig zudrückte. Er setzte noch einmal an und noch einmal.
Harry spürte den Druck des Messers, wusste aber, dass die Klinge gegen das Material verlieren würde. Es gab keinen Stoff mit einem besseren Festigkeit-Gewichts-Verhältnis. Titan made in Hongkong konnte nichts zerschneiden. Aber der Kerl war stark, und es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch er erkannte, dass er an dieser Stelle mit dem Messer nicht weiterkam.
Harry tastete mit der freien Hand vor sich über den Tresen, stieß den Drink um und bekam etwas zu fassen.
Es war ein T-förmiger Korkenzieher der einfachsten Art mit nur wenigen Windungen. Er nahm den Griff, so dass die Spitze zwischen Zeige- und Mittelfinger herausragte, und spürte Panik in sich aufsteigen, als er die Klinge über den Prothesenstumpf gleiten hörte. Dann senkte er seinen Blick, so dass er in den Spiegel sehen und erkennen konnte, wo er treffen musste. Er nahm die Hand zur Seite und stieß sie dann nach hinten, dicht über seinen Kopf hinweg.
Der Körper des anderen erstarrte, als die Spitze des Korkenziehers seitlich in seinen Hals drang. Aber die flache, ungefährliche Wunde hielt ihn nicht auf, stattdessen begann er, das Messer wieder nach links zu ziehen. Harry konzentrierte sich. Es war ein Korkenzieher, der eine trainierte, feste Hand brauchte. Dafür aber auch nur ein paar Umdrehungen, bis er tief im Korken steckte. Harry drehte zweimal. Spürte, wie sich die Spitze durch das Fleisch bohrte. Tiefer und tiefer. Nahm den weichen Widerstand wahr. Die Speiseröhre. Und riss den Korkenzieher mit all seiner Kraft heraus.
Es war, als hätte er einen Korken aus der Seite eines Rotweinfasses gezogen.
Sergej Ivanov war bei vollem Bewusstsein und sah im Spiegel, wie der erste Herzschlag einen Strahl Blut nach rechts schleuderte. Sein Hirn registrierte, analysierte, fasste zusammen: Der Mann, dessen Kehle er aufschneiden wollte, hatte seine Hauptschlagader mit einem Korkenzieher getroffen und aus seinem Hals gerissen, und jetzt pumpte das Leben aus ihm heraus. Sergej schaffte noch drei weitere Gedanken, bevor der zweite Herzschlag kam und ihm das Bewusstsein raubte.
Er hatte den Onkel enttäuscht.
Er würde sein geliebtes Sibirien nie wiedersehen.
Er würde mit einer verlogenen Tätowierung beerdigt werden.
Beim dritten Herzschlag fiel er um. Und als Kurt Cobain memoria schrie, memoria und das Lied zu Ende ging, war Sergej Ivanov tot.
Harry stand von seinem Barhocker auf. Im Spiegel sah er den Schnitt, der quer über sein Kinn verlief. Aber der war nicht so schlimm, deutlich gefährlicher waren die tiefen Wunden im Hals, aus denen das
Weitere Kostenlose Bücher