Die Larve
wenn sie sich bewegte. Harry tippte, dass er aus einem Kunststoff gemacht worden war, den es inzwischen gar nicht mehr gab oder der verboten war, weil er Asbest enthielt oder krebserregend war.
»Ich bin Polizist«, sagte Harry. Räusperte sich. »Expolizist. Und stecke im Augenblick in ziemlichen Schwierigkeiten.«
Sie sagte nichts, sondern stand einfach nur da.
»Die kaputte Scheibe zahle ich Ihnen natürlich.« Harry nahm die Jacke vom Fußboden und holte sein Portemonnaie heraus.
Er legte ein paar Scheine auf das Waschbecken. »Hongkong-Dollar. Die sind besser … als sie sich anhören.«
Er versuchte, sie anzulächeln, und bemerkte die beiden Tränen, die ihr über ihre faltige Wange rannen.
»Aber gute Frau«, sagte Harry und spürte die Panik kommen, das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. »Haben Sie keine Angst. Ich will Ihnen wirklich nichts tun, ich werde gleich wieder verschwinden, okay?«
Er ging auf sie zu. Sie wich mit kleinen, schlurfenden Schritten zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Harry hob die Handflächen und ging zur Terrassentür.
»Danke«, sagte er. »Und Entschuldigung.«
Dann schob er die Tür auf und trat auf die Terrasse.
Das Projektil krachte mit einem solchen Knall gegen die Wand hinter ihm, dass er auf eine großkalibrige Waffe tippte. Dann erst erreichte ihn das Geräusch des Schusses, und die Explosion des Pulvers bestätigte seine Vermutung.
Harry fiel auf die Knie, und der nächste Schuss zerfetzte die Lehne des Gartenstuhls neben ihm.
Ein sehr großes Kaliber.
Harry kroch rückwärts wieder ins Wohnzimmer.
»Auf den Boden!«, rief er, als das Wohnzimmerfenster explodierte. Glasscherben wurden klirrend auf das Parkett, den Fernseher und den Tisch mit den Familienfotos geschleudert.
Harry lief gebückt aus dem Wohnzimmer und über den Flur zur Haustür. Er öffnete sie. Betrachtete das Mündungsfeuer in der geöffneten Tür einer schwarzen Limousine, die unter einer Straßenlaterne parkte. Ein stechender Schmerz zuckte durch sein Gesicht, und er hörte plötzlich einen schrillen, metallisch hohen Laut. Harry drehte sich automatisch um und registrierte, dass die Klingel getroffen worden war. Große, weiße Holzsplitter ragten aus der Wand.
Er wich wieder zurück. Legte sich auf den Boden.
Ein derart grobes Kaliber wurde bei der Polizei nicht verwendet. Harry dachte an die große Gestalt, die er über die Anhöhe hatte laufen sehen. Das war kein Polizist gewesen.
»Sie haben da etwas in der Wange …«
Es war die Frau. Sie musste rufen, um das Schellen der Klingel zu übertönen, die irgendwie blockiert war. Sie stand hinter ihm am Ende des Flurs. Harry tastete mit seinen Fingerkuppen nach der schmerzenden Stelle, dann zog er den Holzsplitter mit einem Ruck heraus. Zum Glück war der Splitter auf der ohnehin schon vernarbten Seite eingedrungen, so dass sein Marktwert nicht noch weiter sinken würde. Dann knallte es wieder. Dieses Mal ging das Küchenfenster zu Bruch. Da gingen seine Hongkong-Dollar hin.
Durch das Klingeln drang der Klang von Sirenen. Harry hob den Kopf. Durch den Flur sah er, dass in den Nachbarhäusern jetzt Licht brannte und die Straße vor dem Haus wie ein Weihnachtsbaum leuchtete. Egal, welchen Weg er nahm – er würde sich selbst zur Zielscheibe machen, und das im Flutlicht. Er hatte die Wahl, entweder er wurde erschossen oder festgenommen. Nein, vermutlich hatte er nicht einmal die, denn auch denen da draußen lief die Zeit davon, und das wussten sie. Außerdem hatten sie aus der Tatsache, dass er das Feuer nicht erwidert hatte, sicher längst geschlossen, dass er unbewaffnet war. Sie würden also zu ihm ins Haus kommen. Er musste weg. Harry griff nach seinem Telefon. Verdammt, warum hatte er ihm nicht das »T« gegönnt und auch seine Nummer gespeichert. Die Kontaktliste war ja noch nicht voll.
»Wie lautet noch mal die Nummer der Auskunft?«, rief er durch den Lärm der Klingel.
»Die Nummer der … Telefonauskunft?«
»Ja.«
»Also.« Sie steckte nachdenklich einen Finger in den Mund, schob den Asbestmantel mit der Hand zurecht und setzte sich auf einen Stuhl.
»Es gibt die 1880, aber die 1881 finde ich netter. Die sind nicht so schnell, dafür aber auch nicht so gestresst. Die nehmen sich manchmal sogar Zeit für ein Quätschchen, wenn …«
»1–8–8–0, Sie haben die Nummer der Auskunft gewählt«, sagte eine nasale Stimme in Harrys Ohr.
»Asbjørn Treschow«, sagte Harry. »Mit c und h.«
»Wir haben einen Asbjørn
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