Die Larve
Blut noch immer auf sein Hemd sickerte.
Die drei anderen Gäste hatten die Bar inzwischen verlassen. Er betrachtete den am Boden liegenden Mann, aus dessen Halswunde noch immer Blut rann, doch das Pumpen hatte aufgehört. Das Herz schlug nicht mehr, so dass er sich gar nicht erst die Mühe machen musste, ihn zu reanimieren. Aber selbst wenn, dieser Mann hätte niemals preisgegeben, wer ihn beauftragt hatte. Das verrieten ihm die Tätowierungen, die aus seinem Ausschnitt hervorlugten. Er kannte die Bedeutung der Symbole nicht, wusste aber, dass es russische waren. Schwarze Samen, vielleicht. Auf jeden Fall war das etwas anderes als die typisch westliche Parolentätowierung des Barkeepers, der an die Spiegelwand gepresst dastand und mit vor Schreck geweiteten, schwarzen Pupillen vor sich hin starrte. Nirvana war verklungen, es war vollkommen still. Harry sah zu dem umgekippten Whiskeyglas vor sich.
»Entschuldigen Sie die Schweinerei«, sagte er.
Dann nahm er den Lappen und wischte zuerst den Tresen ab, auf dem seine Hände gelegen hatten, dann das Glas und schließlich den Griff des Korkenziehers. Er versicherte sich, dass sein Blut nicht auf den Boden getropft war, beugte sich über den Toten und wischte dessen blutige Hand ab, den langen ebenholzschwarzen Messerschaft und die dünne Klinge. Die Waffe – denn das Messer taugte nur zu diesem Zweck – war schwerer als jedes andere Messer, das Harry in der Hand gehalten hatte. Die Klinge war scharf wie bei einem japanischen Sushimesser. Harry zögerte. Dann ließ er die Klinge in den Schaft zucken, hörte ein leises Klicken, als sie arretierte, sicherte sie und schob das Messer in seine Jackentasche.
»Sind Dollar okay?«, fragte Harry, legte die Finger hinter den Lappen und zog so eine Zwanzigdollarnote aus der Geldbörse. »Da steht, die Vereinigten Staaten haften.«
Ein leises Würgen kam über die Lippen des Barkeepers, als wollte er etwas sagen, hätte aber seine Sprache verloren.
Auf dem Weg nach draußen blieb Harry noch einmal stehen. Drehte sich um und sah zu der Flasche, die wieder im Glasregal stand. Fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und hielt eine Sekunde inne. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper, und er verließ die Bar.
Harry überquerte die Straße bei strömendem Regen. Sie wussten also, wo er wohnte. Natürlich konnten sie ihn beschattet haben, es war aber auch möglich, dass der Junge an der Rezeption gequatscht hatte oder dass der Brenner seinen Namen bei der routinemäßigen Überprüfung der Einchecklisten mit den ausländischen Hotelgästen entdeckt hatte, die für Interpol bestimmt waren. Harry konnte unbemerkt in sein Zimmer gelangen, wenn er über den Hinterhof ging, doch das Tor zur Straße war verschlossen. Er musste den Haupteingang nehmen, stellte zu seiner Genugtuung aber fest, dass die Rezeption nicht besetzt war.
Auf der Treppe und oben im Flur hinterließ er eine Spur, die auf dem hellblauen Linoleum wie rote Morsezeichen aussah.
In seinem Zimmer nahm er das Nähset vom Nachtschränkchen und ging ins Bad. Er zog sich aus und beugte sich über das Waschbecken, das gleich darauf blutrot war. Spülte ein Handtuch aus und wusch sich damit Kinn und Hals, aber die Wunde im Hals füllte sich gleich wieder mit Blut. Dann fädelte er in dem kalten, weißen Licht den Faden ein und stach die Nadel durch die weißen Hautlappen an seinem Hals. Erst auf der Unterseite, dann auf der Oberseite der Wunde. Er nähte, tupfte Blut ab und nähte weiter. Als er fast fertig war, riss der Faden. Fluchend zog er ihn heraus, nahm ihn doppelt und begann aufs Neue. Nachdem sein Hals verarztet war, nähte er die Wunde auf dem Kinn zusammen, wusch sich das Blut vom Oberkörper und nahm das saubere Hemd aus dem Koffer. Dann setzte er sich aufs Bett. Ihm war schwindelig. Aber es eilte, sie konnten nicht weit entfernt sein, er musste handeln, solange sie noch nicht wussten, dass er am Leben war. Schließlich wählte er Hans Christian Simonsens Nummer und hörte nach dem vierten Klingeln ein schlaftrunkenes »Hans Christian«.
»Harry hier. Wo liegt Gusto begraben?«
»Vestre Gravlund.«
»Hast du das Material klar?«
»Ja.«
»Wir machen das heute Nacht. Treffen wir uns in einer Stunde auf dem östlichen Weg?«
»Heute?«
»Ja. Und bring Pflaster mit.«
»Pflaster?«
»Bloß ein etwas unbeholfener Barbier. In sechzig Minuten, von jetzt ab, okay?«
Eine kleine Pause, ein Seufzen, und dann: »Okay.«
Als Harry die Verbindung beenden
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