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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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seine eigene, etwas seltsame Weise. Aber es war zu spät, so oder so, jetzt ging es nur noch darum, sich die Medizin zu beschaffen, um endlich wieder gesund zu werden.
    Es war für mich ein total neues Gefühl, dass mein Körper nicht bekam, was er forderte. Schließlich hatte ich immer alles gekriegt, das kapierte ich jetzt. Wenn es von nun an immer so sein sollte, würde ich lieber auf der Stelle sterben. Jung und schön und mit noch einigermaßen intakten Zähnen den Löffel abgeben. Ibsen kam nicht. Das spürte ich jetzt. Ich stand am Küchenfenster und starrte nach draußen auf die Straße, aber von diesem verfluchten Hinkebein war nichts zu sehen. Weder von ihm noch von Oleg.
    Ich hatte es bei allen probiert. Jetzt blieb nur noch einer übrig.
    Diese Alternative hatte ich so weit wie nur möglich nach hinten geschoben. Ich hatte Angst. Ja, wirklich. Dabei wusste ich, dass er in der Stadt war, und das seit dem Tag, an dem er kapiert hatte, dass sie verschwunden war. Stein. Mein Stiefbruder.
    Ich blickte wieder nach unten auf die Straße.
    Nein, lieber sterben als ihn anrufen.
    Die Sekunden tickten weg. Ibsen kam nicht.
    Scheiße! Lieber sterben als so verflucht krank sein.
    Ich kniff die Augen zusammen, aber aus meinen Augenhöhlen krochen Insekten, drückten sich unter den Lidern hervor und krabbelten über mein ganzes Gesicht.
    Das Sterben hatte verloren, sowohl gegen das Anrufen als auch gegen das Kranksein.
    Blieb noch das große Finale.
    Ihn anrufen oder krank sein?
    Scheiße, verdammte Scheiße!
    Harry machte die Taschenlampe aus, als das Telefon zu klingeln begann. Er warf einen Blick auf das Display. Es war Hans Christian.
    »Es kommt jemand«, flüsterte er heiser vor Nervosität in Harrys Ohr. »Er hat direkt vor dem Tor geparkt und geht jetzt zum Haus.«
    »Okay«, sagte Harry. »Bleib ruhig. Schick mir eine SMS , wenn du etwas siehst, und hau ab, wenn …«
    »Abhauen?« Hans Christian klang beinahe beleidigt.
    »Nur, wenn du siehst, dass es in die Hose gegangen ist, okay?«
    »Warum soll ich …?«
    Harry unterbrach die Verbindung, schaltete das Licht wieder ein und richtete es auf das Gitter. »Irene?«
    Das Mädchen sah mit weit aufgerissenen Augen ins Licht.
    »Hör mir zu. Ich heiße Harry, und ich bin Polizist. Ich bin gekommen, um dich hier rauszuholen. Aber draußen kommt wer, und ich muss das erst überprüfen. Sollte er nach unten kommen, musst du so tun, als wäre nichts passiert, verstanden? Ich hol dich hier raus, Irene, versprochen!«
    »Hast du …?«, murmelte sie, aber Harry verstand den Rest nicht.
    »Was hast du gesagt?«
    »Hast du … Violin?«
    Harry biss die Zähne zusammen. »Du musst noch einen Moment aushalten!«, flüsterte er.
    Harry rannte die Treppe hoch und schaltete das Licht aus. Durch den Türspalt blickte er in den Flur. Er hatte freie Sicht auf die Haustür und hörte, wie sich draußen schleifende Schritte näherten. Ein Fuß wurde nachgezogen. Der Klumpfuß. Dann wurde die Tür geöffnet.
    Das Licht ging an.
    Und da stand er. In seiner ganzen Größe.
    Stig Nybakk.
    Der Leiter der Forschungsabteilung im Radiumhospital, der sich noch aus der Schulzeit an Harry erinnert hatte, der Holzschuh kannte und der einen Ehering mit einer schwarzen Kerbe trug. Er hatte eine Junggesellenwohnung, in der nichts Ungewöhnliches zu finden war, und ein Elternhaus, das er noch nicht verkauft hatte.
    Nybakk hängte den Mantel an die Garderobe und kam mit nach vorn gestreckten Armen auf Harry zu, bis er plötzlich stehen blieb und mit den Händen vor sich herumwedelte. Eine tiefe Falte grub sich in seine Stirn. Dann stand er einfach nur da und lauschte. Auf einmal kapierte Harry, was los war. Der Faden, den er beim Hereinkommen an der Hand gespürt und für eine Spinnwebe gehalten hatte, musste etwas anderes gewesen sein. Irgendein unsichtbarer Faden, den Nybakk über den Flur gespannt hatte, um sofort zu bemerken, wenn er ungebetenen Besuch hatte.
    Nybakk wich überraschend schnell und geschmeidig zurück und trat an den Schrank, der gleich hinter der Eingangstür stand. Er schob die Hand hinein und zog etwas Metallisches heraus, das matt glänzte. Eine Schrotflinte.
    Scheiße, Scheiße, Harry hasste Schrotflinten.
    Dann nahm Nybakk eine bereits geöffnete Patronenschachtel aus dem Schrank. Er fischte zwei rote Patronen heraus, steckte sie zwischen Zeige- und Mittelfinger und legte den Daumen dahinter, damit er die Waffe mit einer Bewegung laden konnte.
    Harrys Hirn fuhr Achterbahn,

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