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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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als fürchtete sie, geschlagen zu werden. An einem Fußknöchel hing eine Schelle, die mit einer Kette an einem Deckenbalken befestigt war.
    Harry bemerkte, dass die Kette so lang war, dass sie sich im ganzen Raum bewegen konnte. Sie hätte selbst das Licht einschalten können, schien aber die Dunkelheit vorgezogen zu haben.
    »Machen Sie sie los«, sagte Harry. »Und legen Sie sich selbst die Schelle an.«
    Nybakk hustete. Hielt die Handflächen hoch. »Hör mal, Harry …«
    Harry schlug zu. Verlor den Kopf und schlug zu. Hörte das tote Klatschen von Metall auf Fleisch und sah den roten Streifen, den der Lauf der Waffe über Nybakks Nasenrücken gezogen hatte.
    »Wenn Sie noch einmal meinen Namen sagen«, zischte Harry und spürte seine Wut, »klatsche ich Ihren Kopf mit dem falschen Ende der Flinte an die Wand.«
    Mit zitternden Händen öffnete Nybakk das Schloss der Fußkette, während Irene apathisch und steif vor sich hin starrte, als ginge sie das alles gar nichts an.
    »Irene«, sagte Harry. »Irene!«
    Sie wachte irgendwie aus ihrer Umnachtung auf und sah ihn an.
    »Geh nach draußen«, sagte Harry.
    Sie kniff die Augen zusammen, als bräuchte sie all ihre Konzentration, um die Geräusche, die aus seinem Mund kamen, zu deuten, ihnen einen Sinn zu geben und sie in Aktivität umzusetzen. Dann verließ sie mit langsamen Schritten wie eine Schlafwandlerin den Kellerraum.
    Nybakk hatte sich auf die Matratze gesetzt und das Hosenbein hochgezogen. Er versuchte, die schmale Schelle um sein eigenes dickes, weißes Bein zu legen.
    »Ich …«
    »Machen Sie sie am Handgelenk fest«, sagte Harry.
    Nybakk gehorchte, und Harry überprüfte mit einem Ruck, ob die Kette auch wirklich stramm genug saß.
    »Nehmen Sie den Ring ab und geben Sie ihn mir.«
    »Warum? Das ist irgendein billiger Schrott …«
    »Weil der nicht Ihnen gehört.«
    Nybakk streifte den Ring ab und reichte ihn Harry.
    »Ich weiß nichts«, sagte er.
    »Worüber?«, fragte Harry.
    »Über das, was Sie mich fragen werden. Dubai. Ich habe ihn zweimal getroffen, aber mir sind immer die Augen verbunden worden, so dass ich nicht weiß, wo ich war. Seine beiden Russen sind zweimal die Woche hierhergekommen und haben die Ware geholt, aber ich habe nie irgendwelche Namen mitbekommen. Hören Sie, wenn Sie Geld wollen, ich habe …«
    »Ging es Ihnen darum?«
    »Worum?«
    »Ging es nur ums Geld?«
    Nybakk kniff ein paarmal die Augen zusammen und blinzelte. Zuckte mit den Schultern. Harry wartete, bis irgendwann ein müdes Lächeln über Nybakks Gesicht huschte. »Was glauben Sie, Harry?«
    Er nickte in Richtung seines Fußes.
    Harry antwortete nicht. Er musste das alles nicht hören und war sich auch alles andere als sicher, ob er es hören wollte . Möglicherweise würde er ihn verstehen. Und dann auch wieder nicht. Dass sich nämlich schon wegen einer kleinen angeborenen Behinderung das Leben zweier Menschen, die unter vergleichbaren Bedingungen in Oppsal aufgewachsen waren, dramatisch voneinander unterscheiden konnte. Ein paar Knochen im Fuß, die anders standen, so dass sie ihn nach innen drehten und ihn ein paar Nummern kleiner machten als den anderen. Pes equinovarus. Auch Pferdefuß genannt, weil die Betroffenen beim Gehen wie ein Pferd nie die Ferse aufsetzen. Eine Behinderung, die einem eine etwas schlechtere Startposition verschaffte, die man zu kompensieren in der Lage war oder auch nicht. Auf jeden Fall musste man damit deutlich mehr tun, um der Attraktive zu sein, der, den sie haben wollen; die Jungs, wenn die Mannschaften gewählt werden; die Coolen, die nur coole Freunde wollten; die an den Fenstern lehnenden Mädchen; und besonders die eine, bei deren Lächeln dein Herz explodierte, obwohl es gar nicht dir galt. Stig Nybakk hatte sich auf seinem Klumpfuß unbemerkt durchs Leben geschlichen. So still und heimlich, dass Harry sich nicht an ihn erinnerte. Und es war ziemlich gutgegangen. Er hatte studiert, hart gearbeitet, es bis auf den Chefsessel der Forschungsabteilung geschafft, von dem aus er selbst die Mannschaft bestimmen durfte. Aber das Wichtigste fehlte noch. Das Mädchen am Fenster, denn sie lächelte noch immer die anderen an.
    Reichtum. Er musste reich werden.
    Denn Geld war wie Schminke, es überdeckte alles, verschaffte einem alles, auch das, was man sich angeblich nicht kaufen konnte: Respekt, Bewunderung, Liebe. Man brauchte sich nur umzuschauen, die großen Hochzeiten von Schönheit und Geld waren doch an der Tagesordnung. Und

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