Die Larve
sie im Dunkeln in großen Säcken aufbewahrten, war Harry immer, ohne nachzudenken, nach unten gestürmt und hatte sich dabei eingeredet, dass er wegen der Kälte so rannte oder weil das Essen möglichst schnell auf dem Tisch sein musste oder er einfach gerne lief. Und nicht wegen dem gelben Mann, der irgendwo dort unten lauerte, nackt und lächelnd und mit einer langen Zunge, die man immer wieder aus seinem Mund zischeln hörte. Aber nicht dieser Mann hielt ihn jetzt auf, sondern etwas anderes. Ein Traum. Eine Lawine in einem Kellerflur.
Harry schob die Gedanken beiseite und stellte einen Fuß auf die oberste Treppenstufe. Sie knirschte bedenklich. Er zwang sich, langsam zu gehen. Hielt noch immer das Brecheisen in der Hand. Unten erkannte er im schwachen Licht der Glühbirne, die immer neue Schatten warf, mehrere Türen, die allesamt mit Vorhängeschlössern versehen waren. Wer schließt denn in seinem eigenen Keller die Räume ab?
Harry schob das spitze Ende der Brechstange unter ein Scharnier und holte tief Luft. Ihm graute vor dem Geräusch. Dann zog er das Eisen schnell nach hinten, bis es kurz knallte. Er hielt den Atem an und lauschte, doch auch das Haus schien den Atem anzuhalten. Es war nichts zu hören.
Dann öffnete er vorsichtig die Tür. Der Geruch stach in der Nase, die Finger fanden den Lichtschalter, und im nächsten Augenblick badete Harry im Licht einer Neonröhre.
Der Raum war viel größer, als von außen zu erwarten gewesen war, und er erkannte ihn wieder. Es war die perfekte Kopie eines Raumes, den er sich einmal angesehen hatte. Eines Labors im Radiumhospital. Arbeitstische mit Glaskolben und Regale mit Reagenzgläsern. Harry trat an den ersten Tisch und nahm den Deckel von einer großen Plastikbox. Weißes Pulver mit winzigen braunen Partikeln. Harry benetzte die Kuppe seines Zeigefingers, tupfte auf das Pulver und rieb es sich ins Zahnfleisch. Es war bitter. Violin.
Harry zuckte zusammen, als er ein Geräusch hörte. Er hielt den Atem an. Und da war es wieder. Ein Schluchzen.
Er beeilte sich, das Licht auszumachen, und kauerte sich im Dunkeln zusammen. Die Brechstange hielt er vor sich in der Hand.
Wieder hörte er ein Schluchzen.
Harry wartete ein paar Sekunden. Dann ging er mit schnellen und möglichst leisen Schritten aus dem Raum und nach links, woher das Geräusch gekommen war. Am Ende des Kellers war nur noch eine weitere Tür. Er nahm die Brechstange in die rechte Hand und schlich zu der Tür mit der kleinen vergitterten Luke. Genau so eine Tür hatten sie zu Hause im Keller auch gehabt. Nur mit dem Unterschied, dass diese hier einen Stahlbeschlag hatte.
Harry richtete die Lampe aus, presste sich neben der Tür an die Wand, zählte bis drei, schaltete das Licht ein und leuchtete in den Raum.
Wartete.
Als drei Sekunden vergangen waren, ohne dass jemand geschossen oder das Licht eingeschaltet hatte, legte er die Stirn an das Gitter und sah hinein. Das Licht huschte über kahle Wände, bis es an einer Kette reflektiert wurde, die sich quer über eine Matratze zog, und schließlich sein Ziel fand. Ein Gesicht.
Die Augen waren geschlossen. Sie saß ganz still. Als wäre sie es gewohnt, vom Licht inspiziert zu werden.
»Irene?«, fragte Harry vorsichtig.
Im selben Moment begann das Handy in Harrys Tasche zu vibrieren.
Kapitel 37
Ich schaute auf die Uhr, hatte inzwischen die ganze Wohnung abgesucht, aber noch immer nicht das Versteck von Oleg gefunden. Und Ibsen hätte schon vor zwanzig Minuten hier sein sollen. Die perverse Sau sollte bloß nicht auf die Idee kommen, nicht hier aufzutauchen! Auf Freiheitsberaubung und Vergewaltigung stand lebenslänglich. An dem Tag, an dem Irene mit dem Zug in Oslo angekommen war, hatte ich sie unter dem Vorwand, Oleg warte auf sie, mit in den Probenraum genommen. Natürlich war er nicht da. Dafür aber Ibsen. Er hat sie festgehalten, während ich ihr die Spritze gesetzt und dabei an Rufus gedacht habe. Dass es so am besten war. Sie war sofort vollkommen ruhig geworden, so dass wir sie nur noch nach unten in sein Auto zu tragen brauchten. Mein halbes Kilo wartete im Kofferraum auf mich. Ob ich es bereue? Ja, ich bereue es, nicht gleich ein Kilo verlangt zu haben! Nein, verdammt, klar tut mir das auch ein bisschen leid. Man ist ja nicht total gefühllos. Aber wenn dieses Verdammt-das-hättest-du-nicht-tun-sollen-Gefühl über mich kam, versuchte ich immer, mir einzureden, dass Ibsen sicher gut zu ihr war. Schließlich liebte er sie, auf
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