Die Larve
jetzt war er an der Reihe, Stig Nybakk, der Klumpfuß.
Er hatte das Violin erfunden, die Welt sollte ihm zu Füßen liegen. Doch warum wollte sie ihn immer noch nicht haben, warum wandte sie sich mit schlecht verhohlener Abscheu ab, obwohl sie wusste – wusste –, dass er bereits ein reicher Mann war und mit jeder Woche, die verging, reicher und reicher werden würde? Gab es einen anderen, an den sie dachte, vielleicht den, der ihr diesen idiotischen Ring geschenkt hatte, den sie am Finger trug? Das alles war ungerecht, er hatte hart und unermüdlich gearbeitet, um geliebt zu werden, weshalb sie ihn jetzt verdammt noch mal lieben musste . Deshalb hatte er sie sich genommen. Sie einfach vom Fensterrahmen losgerissen und hier angekettet, damit sie nie wieder verschwand. Und um die Zwangsehe zu vollstrecken, hatte er ihr den Ring abgenommen und an seinen eigenen Finger gesteckt.
Den billigen Ring, den Irene von Oleg bekommen hatte, der ihn seinerseits seiner Mutter gestohlen hatte, die ihn von Harry geschenkt bekommen hatte, der ihn auf einem Trödelmarkt gekauft hatte, wo er … Es war wie in diesem Kinderlied: Ringlein, Ringlein, du musst wandern, von dem einen zu dem andern. Harry fuhr mit dem Finger über die schwarze Kerbe in der vergoldeten Oberfläche. Er war sehend gewesen und doch blind.
Sehend, weil er schon beim ersten Mal, als er Stig Nybakk begegnet war, gesagt hatte: »Der Ring, ich hatte auch mal so einen.«
Und blind, weil er nicht darüber nachgedacht hatte, was das bedeutete.
Die Kerbe im Kupfer, die schwarz angelaufen war.
Erst als er Martines Ehering betrachtet und sie sagen gehört hatte, dass er der einzige Mensch auf der ganzen Welt sei, der so ein billiges Teil als Ehering kaufen würde, hatte er Oleg mit Nybakk in Verbindung gebracht.
Harry war sich seiner Sache sicher gewesen, auch wenn er in Stig Nybakks Terrassenwohnung nichts gefunden hatte. Im Gegenteil, das auffällige Fehlen von Kompromittierendem hatte Harry nur noch mehr davon überzeugt, dass Nybakk sein schlechtes Gewissen an einem anderen Ort aufbewahrte. In seinem Elternhaus, das leer stand und für das er noch keinen Käufer gefunden hatte. Das rote Haus, das über dem der Familie Hole hoch oben am Hang thronte.
»Haben Sie Gusto getötet?«, fragte Harry.
Stig Nybakk schüttelte den Kopf. Schwere Augenlider, er wirkte müde.
»Alibi?«, fragte Harry.
»Nein, das habe ich nicht.«
»Erzählen Sie.«
»Ich war da.«
»Wo?«
»In der Hausmanns gate. Ich wollte zu ihm. Er hatte damit gedroht, mich auffliegen zu lassen. Aber als ich in die Hausmanns gate kam, war schon die Polizei da. Jemand hatte Gusto da bereits getötet.«
»Bereits? Dann hatten Sie das Gleiche vor?«
»Nicht das Gleiche. Ich habe keine Pistole.«
»Was haben Sie dann?«
Nybakk zuckte mit den Schultern. »Ich kenne mich mit Chemie aus. Gusto war auf Entzug. Er wollte Violin von mir.«
Harry sah Nybakks müdes Lächeln und nickte. »Okay, Sie wussten also, dass Gusto sich alles spritzen würde, was Sie ihm brachten, wenn es nur nach einem weißen Pulver aussah.«
Die Kette klirrte, als Nybakk die Hand hob und zur Tür zeigte. »Irene. Kann ich ihr noch etwas sagen, bevor …«
Harry musterte Stig Nybakk und erkannte etwas in seinem Blick. Ein verwundeter Mensch, ein Mann an seinem Ende. Jemand, der sich gegen die Karten, die das Schicksal ihm ausgeteilt hatte, aufgelehnt und verloren hatte.
»Ich werde sie fragen«, sagte er.
Harry ging nach draußen. Irene war verschwunden.
Er fand sie oben im Wohnzimmer in einem Sessel, sie hatte die Füße unter sich hochgezogen. Harry holte einen Mantel aus dem Schrank im Flur und legte ihn ihr über die Schultern. Er sprach leise und ruhig mit ihr. Sie antwortete mit kaum hörbarer Stimme, als hätte sie Angst vor dem Echo, das von den kalten Wänden zurückgeworfen wurde.
Dann erzählte sie ihm, dass Gusto und Nybakk, oder Ibsen, wie sie ihn genannt hatten, sie gemeinsam in die Falle gelockt und gefangen genommen hatten, dass Gusto als Lohn dafür ein halbes Kilo Violin bekommen hatte und dass sie nun seit vier Monaten in diesem Keller saß.
Harry ließ sie ausreden. Wartete, bis er sich sicher war, dass sie zu Ende war, bevor er die nächste Frage stellte.
Über den Mord an Gusto wusste sie nur, was Ibsen ihr erzählt hatte. Dasselbe galt für Dubai und seinen möglichen Wohnort. Gusto hatte nichts gesagt, und Irene hatte es auch gar nicht wissen wollen. Sie kannte nur die überall in der Stadt
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