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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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kursierenden Gerüchte, dass Dubai wie eine Art Gespenst durch die Stadt schlich und dass niemand wusste, wer er war oder wie er aussah. Er war wie der Wind, unmöglich zu fangen.
    Harry nickte. Das hatte er in der letzten Zeit einfach zu oft gehört.
    » HC fährt dich zur Polizei. Er ist Anwalt und hilft dir, eine Anzeige zu machen. Anschließend nimmt er dich mit zu Olegs Mutter, da kannst du erst einmal wohnen.«
    Irene schüttelte den Kopf. »Ich rufe Stein an, meinen Bruder. Ich kann bei ihm wohnen. Und …?«
    »Ja?«
    » Muss ich das anzeigen?«
    Harry sah sie an. Sie war so jung. So klein. Wie ein Vogeljunges. Es war unmöglich zu sagen, wie viel von ihr kaputtgegangen war.
    »Auf jeden Fall kann das bis morgen warten«, sagte Harry, beobachtete, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, und dachte, endlich. Wollte seine Hand auf ihre Schulter legen, schaffte es aber gerade noch, sich zurückzuhalten. Die Hand eines fremden, erwachsenen Mannes war vielleicht nicht gerade das, was sie jetzt brauchte. Aber im nächsten Augenblick versiegten ihre Tränen schon wieder.
    »Gibt es … keine Alternative?«, fragte sie.
    »Was zum Beispiel?«, fragte Harry.
    »Dass ich ihn nicht mehr sehen muss.« Ihr Blick hielt den seinen fest. »Niemals wieder«, flüsterte sie mit ihrer dünnen Stimme.
    Dann spürte er sie. Ihre Hand. Sie lag auf seiner. »Bitte.«
    Harry tätschelte ihre Hand, legte sie zurück in ihren Schoß und stand auf. »Komm, ich bringe dich nach draußen.«
    Als Harry den Wagen davonfahren sah, ging er zurück ins Haus und in den Keller. Er fand kein Seil, aber unter der Treppe hing ein Gartenschlauch. Er nahm ihn mit zu Nybakk und warf ihn vor ihm auf den Boden. Blickte zum Deckenbalken hoch. Der Abstand reichte.
    Dann nahm er das Zestril-Glas heraus, das er in Nybakks Tasche gefunden hatte, und kippte den Inhalt in seine Hand. Sechs Tabletten.
    »Haben Sie ein Herzleiden?«, fragte Harry.
    Nybakk nickte.
    »Wie viele nehmen Sie davon pro Tag?«
    »Zwei.«
    Harry legte Nybakk die Pillen in die Hand und steckte das leere Glas in seine Tasche.
    »Ich komme in zwei Tagen wieder. Ich weiß nicht, was Ihnen Ihr Ruf bedeutet, die öffentliche Hinrichtung wäre aber sicher noch schlimmer, würden Ihre Eltern noch leben. Aber bestimmt ist ja auch Ihnen zu Ohren gekommen, wie man im Gefängnis mit Vergewaltigern umgeht. Sollte es Sie nicht mehr geben, wenn ich zurückkomme, sind Sie vergessen, dann werden Sie nie wieder erwähnt. Sollten Sie noch da sein, nehme ich Sie mit zur Polizei. Verstanden?«
    Als Harry Stig Nybakk zurückließ, folgten ihm dessen Schreie bis zur Haustür. Es waren die verzweifelten Rufe von jemandem, der mit seiner Schuld, seinen Gespenstern, seiner Einsamkeit und seinen Entscheidungen vollkommen allein war. Doch, doch, so manches kam ihm hier bekannt vor. Harry warf die Tür hart hinter sich ins Schloss.
    Im Vetlandsveien hielt er ein Taxi an und bat darum, in die Urtegata gefahren zu werden.
    Sein Hals schmerzte, pochte, als hätte er seinen ganz eigenen Puls, wäre irgendwie zum Leben erwacht, ein eingeschlossenes, verwundetes Tier aus Bakterien, das seine Freiheit forderte. Harry fragte den Fahrer, ob er irgendwelche Schmerzmittel bei sich habe, aber der Mann schüttelte nur den Kopf.
    Als sie langsam in Richtung Bjørvika kurvten, sah Harry über der Oper Feuerwerkskörper explodieren. Jemand feierte etwas. Eigentlich sollte er selbst feiern. Er hatte es geschafft, hatte Irene gefunden, und Oleg war frei. Er hatte getan, wofür er gekommen war. Warum war er dann nicht in Feierlaune?
    »Was ist da los?«, fragte Harry.
    »Ach, das ist nur irgendeine Opernpremiere«, sagte der Fahrer. »Eben habe ich ein paar vornehme Herrschaften da runter gebracht.«
    »Don Giovanni« , sagte Harry. »Ich hatte eine Einladung.«
    »Warum sind Sie nicht hingegangen? Die ist doch bestimmt gut.«
    »Tragödien machen mich so traurig.«
    Der Fahrer sah Harry im Rückspiegel erstaunt an. Lachte. Wiederholte: »Tragödien machen Sie traurig ?«
    Das Telefon klingelte. Es war Klaus Torkildsen.
    »Ich dachte, wir würden nie wieder etwas voneinander hören«, sagte Harry.
    »Ich auch«, antwortete Torkildsen. »Aber ich … ja, ich hab das trotzdem überprüft.«
    »Es ist nicht mehr so wichtig«, sagte Harry. »Was mich angeht, ist die Sache abgeschlossen.«
    »Okay, aber vielleicht interessiert es Sie trotzdem, dass Bellman – oder wenigstens sein Handy – zur Tatzeit unten in Østfold war. Er kann es

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