Die Larve
Gedanke, dass alles nur blankes Chaos war und nicht einmal die Absicht hatte, einen Sinn zu ergeben, schwerer zu ertragen war als selbst die schlimmste, aber wenigstens nachvollziehbare Tragödie.
Auf der Suche nach den Zigaretten steckte er die Hand in die Tasche und spürte den Schaft des Messers an den Fingern. Natürlich hätte er sich davon trennen sollen, bestimmt ruhte ein Fluch auf diesem Messer, wie auf ihm. Aber machte das Messer noch einen Unterschied? Diesem Joch unterlag er doch schon viel zu lange, diesem Fluch, der schlimmer war als jede Klinge und der besagte, dass seine Liebe wie ein Pestgeschwür war, das er mit sich herumtrug.
Genau wie dieses Messer, wie Asajev gesagt hatte, das Leiden und die Krankheiten seines Besitzers auf denjenigen übertrug, der seine Klinge zu spüren bekam, hatten alle Menschen, die sich von Harry hatten lieben lassen, dafür büßen müssen. Sie waren zugrunde gegangen, waren ihm genommen worden. Nur ihre Geister waren noch da. Alle. Und zu ihnen gehörten nun auch Rakel und Oleg.
Er klappte das Päckchen Zigaretten auf und warf einen Blick hinein.
Hatte er sich wirklich eingebildet, diesem Fluch ganz plötzlich entgehen zu können? Dass er nach all dem auf der anderen Seite der Welt glücklich mit ihnen leben konnte? Bis ans Ende ihrer Tage? Während ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss, blickte er noch einmal auf die Uhr. Wann musste er spätestens aufbrechen, um den Flieger zu kriegen? Es war sein eigenes gieriges Herz, dem er lauschte.
Er nahm das zerknitterte Familienfoto heraus und sah es sich noch einmal an. Irene. Und ihr Bruder, Stein. Der Mann mit dem grauen Blick, für den es in Harrys Gedächtnis bei ihrer Begegnung zwei Treffer gegeben hatte. Einer davon war dieses Foto gewesen. Der andere der Abend, an dem er nach Oslo und nach Kvadraturen zurückgekommen war. Der forschende Blick des Mannes hatte Harry verleitet, in ihm einen Polizeispitzel zu sehen, doch das war ein Fehler gewesen. Ein großer Fehler.
Dann hörte er die Schritte auf der Treppe.
Die Kirchenglocke begann zu läuten. Sie klang dünn und einsam.
Truls Berntsen blieb oben auf der Treppe stehen und starrte auf die Tür. Er spürte sein Herz rasen. Sie würden sich wiedersehen. Irgendwie freute er sich ebenso darauf, wie ihm davor graute. Er holte tief Luft.
Und klingelte.
Rückte seinen Schlips zurecht. Er fühlte sich nicht wohl im Anzug. Aber ihm war klar gewesen, dass es dazu keine Alternative gab, als Mikael ihm gesagt hatte, wer alles zu seinem Einweihungsfest kommen würde. Alle, die Rang und Namen hatten, vom gerade abgetretenen Kriminaldirektor über die Dezernatsleiter bis hin zu ihrem alten Konkurrenten vom Dezernat für Gewaltverbrechen, Gunnar Hagen. Auch Politiker sollten kommen. Darunter auch diese foxy Senatstussi, deren Bilder er sich so oft angesehen hatte, Isabelle Skøyen. Und sogar ein paar Promis aus dem Fernsehen. Truls hatte keine Ahnung, wie Mikael mit ihnen bekannt geworden war.
Die Tür ging auf.
Ulla.
»Wie schick du bist, Truls«, sagte sie mit Gastgeberinnenlächeln und glitzernden Augen. Trotzdem erkannte er sofort, dass er zu früh gekommen war.
Er nickte nur und schaffte es nicht, ihr zu sagen, wie hübsch auch sie aussah. Dabei hätte er ihr das sagen sollen, sagen müssen.
Sie umarmte ihn flüchtig, bat ihn herein und sagte, dass sie den Willkommenschampagner noch nicht eingeschenkt hätten. Sie lächelte, rieb sich die Hände und warf einen beinahe panischen Blick in Richtung der Treppe, die nach oben führte. Bestimmt hoffte sie darauf, dass Mikael bald kam und ihn übernahm. Aber Mikael zog sich wohl noch um, inspizierte sein Spiegelbild und versicherte sich, dass seine Haare so lagen, wie sie sollten.
Ulla redete etwas zu schnell und hektisch über Leute aus ihrer Kindheit in Manglerud und fragte Truls, ob er wisse, was die jetzt machten.
Truls wusste es nicht.
»Mit denen habe ich schon lange keinen Kontakt mehr«, antwortete er. Dabei wusste sie eigentlich ziemlich genau, dass er nie Kontakt zu diesen Leuten gehabt hatte. Zu keinem von ihnen, Goggen, Jimmy, Anders, Krøkke. Truls hatte nur einen Freund gehabt: Mikael. Und auch der hatte dafür gesorgt, ihn immer mindestens eine Armlänge auf Distanz zu halten, erst recht nachdem er sozial und karrieremäßig nach oben geklettert war.
Dann gingen ihnen die Themen aus, auch ihr fiel nichts mehr ein. Schließlich fragte sie: »Und? Gibt es eine neue Frau in deinem Leben?«
»Nein,
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