Die Larve
wert sein. Aus genau diesem Grund war er am Morgen mit dem Blut in die Rechtsmedizin gefahren. Die Antwort hatte er noch unmittelbar vor seinem Aufbruch zu Mikael bekommen, da die vorläufige Analyse ergeben hatte, dass es sich um dasselbe Blut handelte, mit dem Beate Lønn erst vor ein paar Tagen gekommen war. Natürlich hatte er sich fragen lassen müssen, ob sie denn überhaupt nicht miteinander redeten oder der Meinung seien, die Rechtsmedizin hätte ohnehin nichts Besseres zu tun. Truls hatte sich entschuldigt, das Gespräch beendet und sich gefragt, was es zu bedeuten hatte, dass das Blut unter den Nagelfragmenten von Gusto Hanssen von Mikael Bellman stammte.
Mikael und Gusto.
Mikael und Rudolf Asajev.
Truls’ Finger huschten über den Schlipsknoten. Nicht sein Vater hatte ihm den beigebracht, der hatte nicht einmal seinen eigenen Schlips binden können. Nein, Mikael war es gewesen, der Truls vor dem Schulabschlussball den einfachen Windsor-Knoten gezeigt hatte, und als Truls ihn gefragt hatte, warum sein eigener Knoten so viel dicker und auffälliger war, hatte Mikael geantwortet, das sei ein doppelter Windsor-Knoten, der Truls aber sicher nicht stehen würde.
Mikaels Blick ruhte auf ihm. Er wartete noch immer auf eine Antwort auf seine Frage. Warum glaubte Truls, dass Mikael etwas mit diesem Spaß zu tun gehabt hatte?
Dass er an dem Beschluss beteiligt gewesen war, ihn gemeinsam mit Harry Hole im Leons zu schlachten.
Es klingelte an der Tür, aber Mikael rührte sich nicht.
»Tja, ich weiß auch nicht«, hörte er sich selbst mit einem nervösen Lachen sagen. »Bloß so ein Gedanke, vergiss es.«
Die Treppe knarrte unter Stein Hanssen. Er spürte jede Stufe und konnte jedes jammernde Knarren im Voraus erahnen. Oben auf dem Treppenabsatz blieb er stehen und klopfte an die Tür.
»Komm rein«, kam es von drinnen.
Stein Hanssen trat ein.
Das Erste, was er sah, war der Koffer.
»Fertig gepackt?«, fragte er.
Sie nickte.
»Hast du den Pass gefunden?«
»Ja.«
»Ich habe ein Taxi zum Flughafen bestellt.«
»Ich komme.«
»Okay.« Stein sah sich um. Wie er es in den anderen Zimmern getan hatte. Abschied nehmen. Jedem Raum sagen, dass er nicht mehr zurückkommen wird. Und dem Echo seiner Kindheit lauschen. Der aufmunternden Stimme seines Vaters. Und der selbstsicheren seiner Mutter. Gustos Enthusiasmus und Irenes Freude. Die einzige Stimme, die er nicht hörte, war seine eigene. Er war immer still geblieben.
»Stein?« Irene hielt ein Bild in der Hand. Stein wusste, welches. Sie hatte es noch an dem Abend, an dem dieser Anwalt, Simonsen, sie hergebracht hatte, über ihrem Bett an die Wand geheftet. Die Fotografie zeigte sie zusammen mit Gusto und Oleg.
»Ja?«
»Hast du jemals Lust verspürt, Gusto umzubringen?«
Stein antwortete nicht. Er dachte nur an den Abend.
An den Anruf von Gusto, der gesagt hatte, er wisse, wo Irene ist. Wie er in die Hausmanns gate gerannt war. Und an die Polizeiwagen, die bei seiner Ankunft bereits dort gestanden hatten. Die Stimmen um ihn herum, die sagten, der Junge sei tot, erschossen. Und an die Erregung. Ja, fast Freude. Und an den Schock danach. Die Trauer. Ja, wirklich, in gewisser Weise hatte er Gusto sogar betrauert. Andererseits hatte er nun plötzlich auch wieder Hoffnung gehabt, dass Irene endlich auf die rechte Bahn kommen würde. Diese Hoffnung war aber natürlich nach ein paar Tagen geplatzt, als ihm bewusst geworden war, dass mit Gustos Tod die vielleicht einzige Chance, sie zu finden, ungenutzt verstrichen war.
Sie war blass. Auf Entzug. Es würde hart werden. Aber sie würden es schaffen. Gemeinsam würden sie es schaffen.
»Sollen wir …?«
»Ja«, sagte sie und öffnete die Schublade des Nachtschränkchens. Betrachtete das Bild. Presste kurz ihre Lippen darauf und legte es mit dem Gesicht nach unten in die Schublade.
Harry hörte das Knarren der Tür.
Er saß im Dunkel, ohne sich zu rühren. Lauschte den Schritten des anderen auf dem Wohnzimmerboden. Dann den Bewegungen bei den Matratzen. Das Glitzern des Stahldrahts, als das Licht der Straßenlaternen darauf fiel. Die Schritte verschwanden in der Küche, und das Licht ging an. Harry hörte, dass der Backofen bewegt wurde.
Er stand auf und folgte ihm.
Blieb in der Türöffnung stehen und sah den anderen auf den Knien vor dem Rattenloch hocken und mit zitternden Händen den Beutel öffnen. Die Werkzeuge nebeneinander hinlegen, Spritze, Gummiriemen, Löffel, Feuerzeug, Pistole. Die Tütchen
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