Die Lava
über ihre Tochter erzählte. Er ahnte, welche Anstrengungen es für sie bedeutet hatte und noch bedeutete, die Tochter alleine zu erziehen und dabei einen verantwortungsvollen Job zu erledigen. Er bewunderte sie für ihre Kraft. Er mochte, dass sie nicht verhärtet war von all dem. Sie musste ihm gegenüber misstrauischsein, natürlich, man hatte sie schon einmal betrogen, und er würde ihr Misstrauen bestätigen, natürlich, weil auch er sie betrügen musste. Sie durfte nichts von ihm wissen. Da kann man sein ganzes Leben lang moralisch den anderen überlegen sein – und befindet sich plötzlich in so einer Situation. Kopf – ich werde lügen; Zahl: Ich lüge.
Trotzdem: Wie gerne wäre er jetzt bei ihr.
Sein Job erforderte es, dass er von Ort zu Ort reiste wie ein moderner Nomade. Niemals länger als ein paar Monate irgendwo, dann weiter. Ist der Drache tot, braucht man den Helden nicht länger. Nach der Bergung des Bombers würde er fort sein, irgendwo auf der Welt – ein anderer Brennpunkt, ein ähnliches Spiel.
Er startete den Film ein zweites Mal. Erneut stürzte das Schaf zu Boden, japste, strampelte und löste sich auf.
Und doch: Wer sagte denn, dass dies nicht sein letzter Auftrag sein konnte?
»This could be the first day of my life«, summte er mit Melanie C. vor sich hin. »Talking to myself …« summte er und lachte plötzlich. Er führte gerade Selbstgespräche.
Er schenkte sich einen Fingerbreit Glenmoriston ein, ein bernsteinfarbener Tropfen, ließ das Lebenselixier durch seine Kehle rinnen, atmete erleichtert auf und ging dann endlich schlafen.
TEIL II
Sie belügen mich, und ich muss die Lüge sein.
(Jorge Luis Borges: El cómplice )
1
»Wie findest du denn den Schotten?«
Clara hielt die Puppe hoch wie ein Fußballer einen Pokal nach dem Endspiel. Sie hatte wohl schon zum hundertsten Mal den Knopf gedrückt, die Dudelsackmusik war bereits schwächer und noch leiernder geworden. »Der ist klasse, Mama.«
Puh! Gute Nachrichten für Franziska.
Clara verschwand in ihrem Kinderzimmer. Franziska starrte das Telefon an. Sollte sie? Oder besser nicht? Die Gedanken an Joe ließen sich nicht so leicht verdrängen, weil aus dem Nebenzimmer ununterbrochen Dudelsäcke herüberdrangen. Andererseits hatte er sie brüsk zurückgelassen, als sein Telefon klingelte …
Sie nahm das gerahmte Bild vom Fensterbrett. Ein Foto aus glücklicheren Tagen. Es zeigte links und halb angeschnitten den mittlerweile abwesenden Vater und rechts sie. In die Mitte hatte sie ein Foto von Clara geklebt, Clara im Alter von drei Jahren, selig lächelnd.
Vor zwei Jahren hatte sie dieses Bild montiert, damit Clara einmal wusste, wie ihr Vater ausgesehen hatte. Dieser elegante Kerl – dieser Blender. Sein überlegenes Lächeln mit den strahlend weißen Zähnen erinnerte Franziska daran, wie er sie umgarnt hatte. Vermutlich nicht nur sie – wer konnte schon sagen, wie viele seiner Überstunden heimliche Treffen mit anderen Frauen gewesen waren? Trotzdem: Sie hasste ihn nicht, konnte ihn nicht hassen, nicht einmal verachten – er hatte ihr Clara geschenkt.
Der Dudelsack quäkte erneut. Sie stellte sich Hutter im Schottenrock vor, eines dieser unförmigen Musikinstrumente umgeschnallt, das Pfeifenrohr im Mund, wie er auf einem Besucherparkplatz am Loch Ness oder vor dem Castle von Edinburgh auf und ab schritt, eine Mütze zum Geldsammeln vor sich. Nein, das war lächerlich. Sie sah ihn eher als Bergsteiger, im Wintersturm steile Hänge erklimmend.
Sie hatte sich nie geschworen, nie wieder etwas mit Männern zu tun haben zu wollen. Aber jeden neuen Versuch hatten die alten Zweifel begleitet, ihr Unbewusstes arbeitete Verdächtigungsszenarien in Romanlänge aus, und das Misstrauen zerfraß alles. Nun war Hutter da, ein netter Kerl, ehrlich und voll Zuwendung. Wie er sie aufgefangen hatte, als sie am Brubbel ausgerutscht war! Wie er ihr im Restaurant in den Mantel geholfen hatte! Und das hatte nichts mit den falschen Aufmerksamkeiten von Claras Vater zu tun, die nur dazu dienten, sie zu beruhigen und sich dabei anderen Frauen als Galan zu präsentieren. Hutter war echt, aber er ließ sie immer wieder stehen. Egal, was sie taten, irgendwann erhielt er einen Anruf, ließ alles liegen und stehen und verschwand.
Sie griff nach dem zerfletterten Buch mit den Affirmationen, das sie selbst ihren engsten Freunden nicht zeigte. Für so etwas schämte man sich als moderner Mensch. Sie klappte die violett bedruckten Seiten auf:
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