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Die Lava

Die Lava

Titel: Die Lava Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Magin
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Basaltlava.
    »Hier geht es los!«, sagte sie und zeigte auf den Waldrand.
    Sie liefen den Weg empor. Er bildete den festen Bestandteil ihrer Touristenführungen, die mit diesem Programmpunkt entweder begannen oder endeten. Es roch nach Kiefernharz und Blütenstaub. Clara hüpfte voran, ein fröhlich schwirrender Schmetterling auf einer Wiese voller Blumen.
    Nach einem kurzen Anstieg gelangten sie zu einem hoch aufragenden Turm aus schwarzem Lavagestein.
    »Das ist der Lydiaturm«, erklärte Franziska, während sie die Treppen im Inneren erklommen, »dreiundzwanzig Meter hoch. Du wirst gleich sehen, warum ich dich hierher geführt habe.«
    Offenbar fand Clara das Stufensteigen zu anstrengend.
    »Das ist so steil«, maulte sie.
    Joe Hutter wollte Clara auf den Rücken nehmen, doch die Decke war nicht hoch genug. Also trug er sie wie einen Sack in seinen Händen. Das letzte Turmstück, ein Holzgerüst, bot mehr Platz. Schließlich waren sie oben angelangt. Hier war es kühler und windiger als im Tal.
    Franziska nahm Clara bei der Hand und ging vor bis zur Brüstung.
    »Du kennst den See sicher von Luftfotos«, sagte sie zu Hutter. »Hier hast du die gleiche Perspektive!«
    Tief unter ihnen glänzte der See. Blau und kreisrund lag er vor ihnen, hinter einem Halbkreis aus bewaldeten Hügeln. Kein Boot war zu sehen, und von fern waren die Türme der Benediktinerabtei nur schwach zu erkennen. Der See sah tatsächlich wie ein Vulkankrater aus, mit aufragenden, steilen Wänden. Dennoch: Von dieser hohen Warte aus wirkte er ganz still und friedlich. Nichts ließ die titanischen Kräfte erahnen, die unter diesem Trichter schlummerten und die – einmal entfesselt – imstande waren, das Land im weiten Umkreis zu verwüsten.
    Joe erinnerte sich daran, wie er den See zum ersten Mal gesehen hatte, auf dem Weg von der Autobahn zum Kloster. Schon bei Plaidt und Kruft bewunderte er die steil aufragenden, noch ganz frisch wirkenden Zuckerhüte der Vulkanberge. Allein die dichte Bewaldung nahm ihnen etwas von ihrer Bedrohlichkeit.
    Aber nichts konnte ihn auf den Blick auf den See vorbereiten: Es ging zuerst leicht schräg hinauf am Außenhang des Berges, dann über einen schmalen Sattel. Plötzlich tat sich das ungeheuere Erdloch vor ihm auf. Fern schimmerte die Oberfläche des Sees. Es glich einer Idylle und ließ dennoch in all seiner Grandiosität die Kräfte erahnen, die es geschaffen hatten.
    Es war ruhig hier oben. In der Ferne zog ein Bussard seine Kreise. Joe genoss die Stille, schloss eine Sekunde lang die Augen und sog tief die Luft ein. Wie wenig solcher Augenblicke hatte er in den letzten Wochen erleben dürfen. Und wie bald würden ihn die Eile und Hektik seiner Aufgabe wieder einholen.
    Der Wind zerzauste Franziskas Haare und wirbelte sie Joe ins Gesicht. Instinktiv schob er sie zur Seite. Er lachte, und Clara lachte mit ihm.
    »Mama fängt dich ein!«, krähte die Kleine.
    Franziska waren diese Worte ihrer Tochter peinlich. Siehüstelte aus Verlegenheit. Sie versuchte abzulenken und verfiel in ihre Fremdenführerroutine.
    »Geradeaus blicken wir auf das Südostufer, dort liegt die Stelle mit den Mofetten, den Gasblasen.« Franziska zeigte Joe die wichtigsten Orientierungspunkte. »Dort rechts liegt das Kloster, knapp links davon, näher am Ufer, der Biohof. Und hier«, sie wies in die entgegengesetzte Richtung, »direkt unter uns erstreckt sich der Campingplatz. Von hier aus sehen wir ihn nicht. Links ist sehr schön die Steilwand der Caldera zu erkennen.«
    Er nickte. All das war ihm von den Karten und von mehreren Erkundungsgängen in der Umgebung vertraut.
    »Es gibt eine schöne Sage von einem versunkenen Schloss im See«, wandte sich Franziska halb zu Clara und halb zu Joe Hutter. »Sie erzählt von einem armen Fischerjungen, der eines Nachts mit seinem Nachen über den See fuhr. Plötzlich hörte er wunderschöne Musik, die aus dem Wasser kam. Er beugte sich über den Rand seines Kahns und erblickte einen herrlichen Palast mit prächtigen, hell erleuchteten Fenstern, in dem gerade ein herrschaftlicher Ball stattfand. Zwei Seejungfern tauchten zu ihm hoch, und willig stürzte er sich in ihre Arme. Sie aber zogen ihn nach unten und ersäuften ihn. Du siehst«, Franziska wandte sich an Joe Hutter, »dass man schon immer wusste, dass der See dem Menschen gefährlich werden kann.«
    Hutter lachte. Ihn interessierten solche Märchen nicht – er musste die realen Gefahren des Vulkans möglichst präzise

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