Die Legende
hinter mir aus. »Was bildest du dir ein, einfach so hier aufzutauchen?«, fauchte sie meinen Vater an. »Mir wäre es lieber, du wärst wirklich tot.«
Meine Schwester war noch weniger diplomatisch als meine Mutter.
»Na na, wer wird denn so etwas sagen?«, mischte sich nun Philipp von Bismarck ein, der es mit seinen langen Schritten inzwischen bis zu uns geschafft hatte. »Familienbande sind die dicksten Bande, die es auf der Erde gibt.«
»Nicht in Mullendorf«, erwiderte Isabelle schnippisch. »Jedenfalls nicht in unserer Familie. Und ich kann auch darauf verzichten.« Sie warf erst meinem Vater, dann mir einen bitterbösen Blick zu. Und da sie nun schon bei mir angekommen war, hackte sie auch gleich weiter auf mir herum. »Wieso bist du überhaupt hier? Pedro ist jetzt mein Freund, du wolltest ihn nie haben, also hättest du von seiner Party fern bleiben sollen.«
»Das ist die Party seiner Eltern, und wenn er mich einlädt, komme ich, sonst wäre das sehr unhöflich.«
»Wenn du dich wieder an ihn heranmachen willst, mache ich dich kalt«, zischte sie.
Ich konnte hören, wie mein Vater seufzte, als er uns zuhörte. »Mädels«, sagte er. »Das ist nur ein Junge, der vermutlich schon mit der nächsten flirtet.«
Philipp von Bismarck neben mir lachte laut. »Und eine weitere schon in sein Schlafzimmer geschickt hat. Ich habe sie gesehen.«
»Was?« Isabelle wurde hellhörig. »Wen??«
»Eine hübsche Blondine, Tabea oder so heißt sie. Ich würde sie auch nehmen, wenn sie auf einen so alten Knacker wie mich stehen würde.«
Ich sah, wie Isabelle knallrot anlief. Tabea lernte in einer Klasse über ihr und sah tatsächlich sehr hübsch aus. Meine Augen wanderten zu Pedro, der neben dem Pavillon stand und gerade mit einem anderen Mädchen flirtete, einer Brünetten, zwei, drei Jahre älter als er.
Isabelle kochte, gab sich jedoch Mühe, uns nicht zu zeigen, wie es in ihr aussah, was ihr grottenschlecht gelang. Man konnte auf hundert Meter Entfernung merken, dass die Eifersucht sie gleich zur Amokläuferin machen würde.
»Isa, lass ihn«, sagte ich zu ihr, doch sie hörte nicht auf mich. Sie stürmte los, auf Pedro zu. Ich konnte nicht hören, was sie zu ihm sagte, ich sah nur, wie die Brünette zurückwich und Pedro etwas erwiderte. Dann versuchte sich die Brünette einzumischen. Mein Vater stand auf und wollte seiner Tochter zu Hilfe eilen. Ich folgte ihm, und dann geschah es. Isabelle und Pedro rangelten miteinander und gerieten dabei immer näher an den Pavillon mit den Getränken heran. Der hübsche Barkeeper wich nach hinten aus, dabei geriet er ins Straucheln und stürzte über eine Kiste Bierflaschen, fiel in das Gestänge des Zeltes und riss dabei den Pavillon mit sich. Das wiederum brachte mehrere hoch übereinandergestapelte große Kisten mit Weinflaschen zu Fall. Sie kippten zur Seite, genau auf Pedro zu, der sich bemühte, seinen Fuß aus dem Stoff des Pavillons zu befreien. Als die oberste Kiste runterkrachte, donnerte sie ihm genau auf den Kopf. Die zweite zerschmetterte seine Schulter, die dritte begrub den bereits am Boden Liegenden unter sich. Die vierte wackelte bedrohlich, blieb jedoch schließlich stehen. Blut mischte sich mit rotem Wein und floss den Boden entlang. Pedro lag da und rührte sich nicht. In dem entstandenen Chaos fiel es zunächst niemandem auf, dass er sich nicht mehr bewegte, erst als ein großer Mann sich plötzlich auf ihn stürzte, begann das Geschrei. Denn der Mann war nicht gekommen, um zu helfen. Er war da, um Pedros Blut zu trinken. Der große Freund des Fürsten mit den riesigen Händen vergrub seine Zähne in das Handgelenk des Verunglückten, das unter der Kiste hervorragte, und begann Pedro leer zu saugen.
Bei diesem Anblick brach Panik bei den Anwesenden aus. Es war furchtbar anzusehen, wie auf einmal alle durcheinanderliefen, übereinander fielen und kopflos auf den Ausgang zusteuerten. Ich versuchte, mich in den Büschen in Sicherheit zu bringen, damit ich nicht zertrampelt wurde.
Philipp von Bismarck donnerte mit seiner Stimme in das Chaos hinein. »Halt! Hiergeblieben! Das ist der Kreislauf der Welt! Ihr müsst keine Angst davor haben! Was tot ist, dient als Nahrung für das Lebendige. Warum sollen wir mit unseren Toten nur die Pflanzen auf den Friedhöfen füttern? Warum nicht auch diese Rasse unserer Menschen? Sie wollen leben wie ihr. Mein Freund hat niemanden getötet. Das wart ihr, oder sagen wir, es war ein Unfall. Er lässt nur den Tod
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