Die Legende Der Wächter 07: Der Verrat
Doch kein Nager erschien in seinem Blickfeld, sondern eine junge Höhlenkäuzin. Sie schlüpfte aus einem unterirdischen Bau, dessen Eingang Nyroc übersehen hatte. Nyroc war so lange keinem Artgenossen begegnet, dass er sich unwillkürlich tot stellte. Als die Höhlenkäuzin ihn erblickte, erstarrte auch sie. Sie ließ sogar das Bündel fallen, das sie im Schnabel trug. Es handelte sich um Kalo, die Tochter von Harry und Mistel. Harry hatte Mistel endlich überredet, den Sommer in Silberschleier zu verbringen. Die Eulenfamilie war mitten in den Umzugsvorbereitungen.
Als Kalo Nyroc sah, riss sie ungläubig die Augen auf. Träume ich oder ist sie das?
Die Niederlage der Reinen war in der ganzen Eulenwelt mit großer Freude aufgenommen worden. Es ging jedoch das Gerücht, dass Eisenschnabel, der Anführer der Reinen, zwar gefallen war, seine Frau Nyra aber noch lebte. Immer wieder wurde Nyra hier und dort gesichtet. Kalo selbst war ihr noch nie begegnet, doch sie kannte Beschreibungen: Nyras Gesichtsschleier sei ungewöhnlich groß und weiß und eher mondrund statt herzförmig, und eine Narbe zöge sich quer über ihr Gesicht. Vor lauter Schreck fiel Kalo nicht auf, dass die fremde Eule ein Männchen war und kein Weibchen. Sie war fest davon überzeugt, dass auf dem Felsen die gefürchtete Nyra lauerte.
Kalo nahm allen Mut zusammen und fragte: „W-w-was machst du hier?“
„Ich ruhe mich nur kurz aus. Ich bin nach Silberschleier unterwegs.“
„Nach Silberschleier?“ Kalos Mutter Mistel schlüpfte aus dem unterirdischen Bau, doch als sie Nyroc erblickte, blieb auch sie wie angewurzelt stehen und legte die Federn an.
Nyroc wollte nicht unhöflich sein. Er hüpfte ein Stück vor und setzte an: „Ich heiße Nyr…“
Die beiden Käuzinnen kreischten schrill auf und verschwanden blitzartig unter der Erde. „Sie ist hier, Harry, Nyra ist hier! Und sie fliegt nach Silberschleier. Wir bleiben, wo wir sind! Der Umzug hat sich erledigt.“
Nyroc hörte alles mit an, weil Mistel vor Aufregung schrie. Sein Magen wurde schwer wie Stein, als er begriff, was los war. Die Höhlenkäuze verwechseln mich mit meiner Mutter. Sie glauben, ich will sie entführen oder töten.
Im nächsten Augenblick hatte er sich in die Lüfte geschwungen. Im Fliegen sprach er unter Tränen alles aus, was er den Höhlenkäuzen gern gesagt hätte: „Ich will euch nichts Böses. Ich wollte mich nur ausruhen. Ich wollte auch nicht lange bleiben. Ich heiße nicht Nyra, sondern Nyroc. Ich bin ganz anders als meine Eltern …“
Oh nein! , hörte er körperlose Stimmen widersprechen. Du bist und bleibst der Sohn deiner Eltern. Wo du auch hinkommst, wird man dich fürchten und hassen. Kehr um! Die Reinen werden dich mit Freuden wieder aufnehmen. Du bist ihr künftiger König!
Die Nacht war stockfinster. Weder Mond noch Sterne schienen. Nyroc wandte den Kopf und sah plötzlich eine Nebelgestalt neben sich fliegen. Es war aber nicht der Geisterschnabel seines Vaters, wie er erst glaubte, sondern ein unbekanntes Eulenwesen mit farblosen und trotzdem durchbohrend blickenden Augen. Und es war nicht allein. Insgesamt drei Nebeleulen umringten Nyroc.
Waren das Hägsdämonen, die geradewegs aus Hägsmir, der Eulenhölle, kamen? Die Nebeleulen tanzten um Nyroc herum und sangen krächzend:
Die Stimmen der Toten sind wir,
Und wir verkünden dir:
Wir holen Dich, schwach, wie du bist,
Noch ehe die Nacht zu Ende ist.
Doch lernst du zu hassen,
Wirst König du werden,
Der größte, den es je gab auf Erden.
Nyroc bekam es mit der Angst zu tun. Wir holen dich, ehe die Nacht zu Ende ist … Wollten sie ihn töten? Ihre Flügelschläge erzeugten keinerlei Luftzug. Auch der Gegenwind hatte sich gelegt.
Nyroc senkte den Kopf und sagte leise, aber nachdrücklich: „Schert euch fort. Euch gibt es gar nicht.“ Dann schlug er energisch mit den Flügeln und ließ die Nebelgestalten hinter sich.
Sein Magen war in Aufruhr. Warum waren die Geisterschnäbel ihm gefolgt? Warum hatten sie ihn angesprochen?
Doch er würde sich nicht davon abbringen lassen, nach Silberschleier zu fliegen. Jetzt erst recht!
Am Horizont tauchte eine niedrige Hügelkette auf. Nyrocs Magen schlug einen freudigen Purzelbaum. Diese Hügel stellten die nördliche Grenze der Ödlande dar, das wusste er von Philipp. Dahinter erstreckte sich der Frohwald, der schönste Teil des Silberschleier-Waldes. Dort lebten alle möglichen Eulenarten, auch Schleiereulen der verschiedensten Gattungen. Sie
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