Die Legende der Wächter 4: Die Belagerung
glatte Oberfläche, über die die Luft ungehindert hinwegstreichen kann. Die Federstrahlen des Unbekannten waren ganz zerzaust, sie mussten behutsam wieder ausgerichtet und geglättet werden. Doch der Fremde hatte sich unter Simons Schnabel weggeduckt. Merkwürdig, sehr merkwürdig, dachte der Glaux-Bruder.
Simon kehrte mit einem Schnabel voll Blutegel in die Höhle zurück und setzte die Würmer unter die aufgebogenen Ränder der sonderbaren, halb geschmolzenen Eisenmaske, die das Gesicht des Fremden verdeckte. Ihm die Maske abzunehmen, traute er sich nicht. Die nähere Betrachtung erwies, dass sein Schützling tatsächlich ein Schleiereulenmännchen war, allerdings handelte es sich um einen ungewöhnlich großen Vertreter dieser Eulenart. Der junge Pilger flößte seinem Patienten Wasser ein, indem er feuchtes Moos über dem halb offenen Schnabel ausdrückte. Hin und wieder flatterten die Lider des Unbekannten schwach, aber er fieberte eindeutig, denn seinem Schnabel entströmte ein unaufhörlicher Schwall von wüsten Beschimpfungen und Racheschwüren, die sich gegen einen gewissen Soren richteten.
Simon pflegte das fremde Eulenmännchen Tag und Nacht. Er wechselte die Blutegel aus und träufelte Wasser auf das verdrehte Metallstück, unter dem der Schnabel des Kranken gesessen haben musste. Der Fremde beruhigte sich zusehends und fluchte auch nicht mehr so oft, worüber Simon sehr froh war. Die Glaux-Brüder waren nämlich ein friedliebender Orden.
Zwei Tage lang hatte der kranke Schleiereulerich viel geschlafen, am dritten Tag öffnete er die Augen. Er war wieder bei klarem Verstand. Doch als er nun den eisernen Schnabel aufmachte und seinen Pfleger ansprach, erschrak Simon. Denn was der Fremde sagte, war fast so verstörend wie zuvor seine mordlustigen Verwünschungen. „Du gehörst nicht zu den Reinen.“
Zu den Reinen? Was beim Glaux sollte das heißen? „Sei nicht böse, aber ich verstehe nicht, was du meinst“, erwiderte Simon.
Kludd blinzelte. Hat der Bursche denn keine Angst vor mir?, wunderte er sich. Laut sagte er: „Macht nichts. Ich muss mich wohl bei dir bedanken.“
„Du musst gar nichts. Ich bin ein Pilger. Ich erfülle nur meine heilige Pflicht.“
„Was für eine Pflicht denn?“
„Meine Pflicht unserer Spezies gegenüber.“
„Wir beide gehören nicht derselben Spezies an!“, rief Kludd derart empört, dass der Fischuhu zusammenfuhr. „Ich bin eine Schleiereule, Tyto alba, und d u …“, er rümpfte den Schnabel, „ … du bist ein Fischuhu. Jedenfalls stinkst du wie einer.“
„Ich habe ganz allgemein gesprochen. Meine heilige Pflicht gilt der gesamten Eulenheit.“
Ein dumpf grollendes Hu! war die Antwort und der Schleiereulerich schloss die Augen wieder.
„Ich lasse dich jetzt allein“, verkündete Simon.
„Falls du zufällig auf die Jagd fliegs t – ich ziehe rotes Fleisch weißem Fischfleisch vor. Wühlmäuse fresse ich besonders gern.“
„Ich werde mein Möglichstes tun. Wenn du dich gestärkt hast, kommst du bald wieder zu Kräften, da bin ich sicher.“
Kludd musterte den Fischuhu verächtlich. Sei dir lieber nicht zu sicher, was mich betrifft, du könntest eine böse Überraschung erleben, dachte er. Was für eine hässliche Eule, beim Glaux! Platter Kopf, schmutzfarbenes Gefieder, weder richtig braun noch richtig weiß oder grau, mickrige Federohren. Eine abstoßendere Eule als ein brauner Fischuhu dürfte schwer zu finden sein.
Kludd hatte zwar schon einmal von Pilgereulen gehört, aber Näheres wusste er nicht über sie. Darum nutzte er die Gelegenheit und fragte: „Du hast gesagt, du seist ein Pilger. Wo kommst du her?“
Simon freute sich, dass der Fremde Interesse an ihm bekundete. „Aus den Nordlanden.“
Kludd horchte auf. Die Nordlande sagten ihm etwas. Von dort stammte der weise alte Kreischeulerich Ezylrb. Es war eigentlich Ezylrybs Schuld, dass Kludd in der Schlacht beinahe sein Leben gelassen hatte. „Ich dachte, in den Nordlanden lebten Krieger, nicht Pilger.“
„Die Eulen aus den Nordlanden sind gefürchtete Krieger, das ist richtig, aber man kann auch für mehr Liebe und Frieden in der Welt kämpfen statt für Tod und Vernichtung.“
Kludd hätte seinem Gegenüber am liebsten eine Salve Gewölle ins Gesicht gespuckt. Von dem Geschwätz des Burschen bekam man ja Federausfall! Doch er entgegnete nur knapp: „Verstehe.“ Dabei verstand er gar nichts. Aber manchmal ging man besser etwas diplomatischer vor, auch wenn sich einem von
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