Die Legende der Wächter – Der Zauber
stellt sie keine echte Gefahr mehr dar, weil ihr Heer zerschlagen ist.“
Coryn, der wieder in die Glut geschaut hatte, wandte ruckartig den Kopf. „Nyra ist nicht irgendeine bösartige Eule, Onkel. Wenn sie …“
„Ich weiß, ich weiß“, fiel Soren ihm leicht gereizt ins Wort. „Schließlich haben wir die Legenden zusammen gelesen. Wenn sie tatsächlich eine Hägsdämonin ist …“
„Das ist nicht der Punkt. Weißt du noch, was ich gesagt habe, als wir beide die erste Legende vom Glutsammler Gränk gelesen haben?“
Ja, das wusste Soren noch sehr gut. Coryn hatte aus der Legende die Schlussfolgerung gezogen, dass auchsein eigenes Blut verseucht war, falls in den Adern seiner Mutter ein Anteil Dämonenblut floss. Soren fand diesen Gedanken unsinnig, aber er hatte Coryn nicht von seiner Überzeugung abbringen können. Zum Glück ahnten weder der Rest der Viererbande noch Otulissa etwas von Coryns Befürchtung. Der junge König wollte auf keinen Fall, dass noch jemand außer seinem Onkel davon erfuhr.
„Die Glut hat dir ein Bild gezeigt, nicht wahr?“, fragte Soren.
Coryn schaute wieder auf und blinzelte erstaunt, als nähme er seinen Onkel erst jetzt richtig wahr.
„Was machst du überhaupt hier? Warum bist du nicht in deiner eigenen Höhle bei Pelli und den Kleinen? Es ist helllichter Tag. Warum schläfst du nicht?“
„Ich weiß auch nicht …“
„Hast du geträumt?“
„Vielleicht.“ Soren schloss kurz die Augen, als müsste er sich sammeln oder nach den richtigen Worten suchen. „Du weißt ja, wie das ist … Du bist ein Feuerseher und ich bin ein Sternenseher.“
„Ja, ich weiß. Du träumst von Dingen, die hinterher tatsächlich passieren. Aber worauf willst du hinaus? Hast du geträumt, dass mir die Glut Bilder zeigt? Bilder von meiner Mutter? Wenn das so ist, müsstest du eigentlich wissen, was mich beunruhigt.“
„Ja, ich habe geträumt. Aber leider kann ich meinen Traum nicht recht deuten“, entgegnete Soren bedauernd.
Er hatte in der gemütlichen Höhle geschlafen, die er zusammen mit seiner Gefährtin Pelli und den drei gemeinsamen Töchtern bewohnte: Sebastiana, auch „Bascha“ genannt, Blüte und Bell. Auf einmal war es ihm vorgekommen, als träumte er keinen eigenen, sondern einen fremden Traum – oder teilte er vielleicht Coryns Vision, die ihm die Glut im selben Augenblick offenbarte?
Soren war verstört aufgewacht. Aus den alten Legenden wusste er, dass die Hägsdämonin Krieth die Fähigkeit gehabt hatte, sich in die Träume anderer Lebewesen einzuschleichen. Als Soren sich etwas beruhigt hatte, kam er jedoch zu dem Schluss, dass es sich bei seinem seltsamen Traum um ein Sterngesicht gehandelt hatte.
Die meisten Nachttiere glaubten, wenn sie tagsüber schliefen, seien die Sterne verschwunden. Bei jenen hingegen, die die seltene Gabe des Sternensehens besaßen, bildeten die Sterne gleichsam kleine Öffnungen im Gewebe ihrer Träume. Durch diese Öffnungen erblickten die Sternenseher Ereignisse, die später Wirklichkeit wurden.
Was Soren in seinem Traum gesehen hatte, hing tatsächlich mit Coryns Vision zusammen. Soren hatte abernicht von einem unheimlichen Mond geträumt, der sich in ein vernarbtes Gesicht verwandelte, und auch nicht von Flammen, Furcht und Verlust. Was er gesehen hatte, waren eher Fetzen einer Vision innerhalb einer Vision gewesen, Bruchstücke eines Traums in einem Traum. Aber bedeutete das nun, dass Nyra noch am Leben war? Dass sie zurückkehren würde, um ihren eigenen Sohn zu töten?
Soren wollte sich seine Beunruhigung auf gar keinen Fall anmerken lassen. Er wollte die Freude über die wunderschöne Zeit, die mit der Ankunft des neuen Königs im Großen Baum angebrochen war, nicht trüben.
„Wie schon gesagt“, setzte er darum noch einmal mit fester Stimme an, „es ist überhaupt nicht bewiesen, dass sie noch lebt. Genauso wenig wie bewiesen ist, dass sie eine Dämonin ist. Sie ist eine elende Verbrecherin, nicht mehr und nicht weniger.“
„Nicht mehr? Ich weiß nicht …“, sagte Coryn leise.
„Wieso?“
„Als wir gelesen haben, wie Krieth Lotta behandelt hat … da musste ich daran denken, wie …“
„Wie was ?“ Die roten Lichter, die die Glut in die dunkle Baumhöhle warf, schienen einen uralten Tanz aufzuführen.
„Wie meine Mutter mich behandelt hat. Als ich noch ganz klein war, kam es mir immer vor, als würde ihrgroßes Gesicht noch größer, wenn sie wütend auf mich war. Unter ihrem schneeweißen
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