Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
Mannes, als wollten sie ihn beschützen.
    Asselineau hieß der Mann, der Beuzaboc seinen Namen verpasste. Er kam aus Bourgogne und war Dreher bei der SNCF. Vor dem Krieg arbeiteten beide im Depot von Lille-Délivrance. Tescelin Ghesquière, damals sechzehn, war Hilfsarbeiter. Asselineau, achtunddreißig, ließ sich jeden Tag eine neue Geschichte einfallen, um den Jungen zu unterhalten. Er fand ihn rührend und naiv. Eines Morgens erzählte er ihm bei Arbeitsantritt von einer Eiche in seinem Dorf Mancy,die als historisches Monument gelte. Und das sei eine wahre Geschichte.
    »Heißt das, man kann sie innen besichtigen?«, fragte Tescelin.
    »Heiliger Beuzenot!«, rief Asselineau lachend.
    Beuzenot
bedeutete in Morvandiau, Asselineaus heimischem Idiom, Einfaltspinsel. So wurde Tescelin dann für eine Weile von allen genannt. Da er sich nach der Arbeit nur selten Gesicht und Hände wusch, nannte ihn ein anderer Eisenbahner in seinem Dünkirchener Dialekt
boc
, Kohlensack. Er könne sich nicht mehr genau erinnern, wie beides sich zu Beuzaboc vermischte. Jedenfalls sei es passiert. Und nach der Niederlage trennte sich der verirrte Soldat zwar von seinem Gewehr, seiner Uniform und seinen Papieren, seinen Namen aber behielt er. Als er in die Werkstatt zurückkehrte, stellte er sich als Beuzaboc vor.
    »Und Ihre Tochter hat es Ihnen nachgetan?«
    Dasselbe Lächeln.
    Ja, das hatte sie. Als er ihr im Halbdunkel des Kinderzimmers eine Geschichte nach der anderen über Beuzaboc erzählte, beschloss sie zum Spaß, diesen Namen anzunehmen. Sie war noch jung. Ihre Mutter starb bald darauf an einer Lungenembolie. Zu einer Beuzaboc geworden, klammerte sich Lupuline an alles, was ihr blieb. Das Erbe ihres Vaters waren Geschichte, Mut, Kraft. Das wappnete sie gegen alles. Nach der Befreiung hängte Tescelin »Beuzaboc« mit einem Bindestrich an seinen Familiennamen Ghesquière an, um daraus einen Gebrauchsnamen zu machen. Lupuline hatte dieses Recht nicht, nahm es sich aber. Beuzaboc stand auf ihren Visitenkarten, ihrem Briefkasten, ihrer Tür. LupulineBeuzaboc. Es war ihr privates Geheimnis. So nannten sie Verwandte, Familie, Freunde, der engere Kreis. Anderen gegenüber erläuterte sie, das sei der Deckname ihres Vaters im Widerstand gewesen. Und nie hatte jemand etwas daran auszusetzen gehabt.

10
    Eine Woche später las Tescelin Beuzaboc, was ich über den Tod des deutschen Soldaten geschrieben hatte, den Kopf wie gewohnt an die Kopfstütze seines Sessels gelehnt, die Seiten auf Brillenhöhe erhoben. Ich wartete stehend, ein Glas Wasser in der Hand. Der Ventilator blies die Ecken der Seiten hoch. Zweimal schaute Beuzaboc zu mir hin, bevor er seine stumme Lektüre wieder aufnahm.
    »Trompette klingelte wie wild, als ob Fives ihm den Weg abgeschnitten hätte. Niemand hatte den Schuss gehört. Der Soldat fiel einfach rücklings von der Plattform, fast langsam. Als ob er über eine Stufe gestolpert wäre. Ich sah, wie ein anderer Deutscher ihm lachend die Hand hinstreckte. Ich hatte einen Menschen getötet, und sein Freund lachte. Dann steckte ich die Pistole in meinen Gürtel und fuhr davon.«
    »Ich sehe da ein paar Fragezeichen«, sagte Beuzaboc. »Verständnisprobleme?«
    Ich lächelte. Nein, keineswegs. Es seien nur noch ein paar Kleinigkeiten zu überprüfen.
    »Überprüfen?«
    Ja, ich wolle die Geschichte mit ein paar Details anreichern, um genauere Angaben machen zu können.
    »Zum Beispiel?«
    Ich ging den Text noch einmal durch.
    »Sie sagen, Sie sind nach der Aktion einfach weggefahren, aber wohin genau? Außerdem haben Sie mir den Namen des Platzes, auf dem das Ganze stattfand, nicht gesagt. Ich werde versuchen, das herauszufinden.«
    »Wo wollen Sie das denn finden?«
    »In Archiven, Büchern, das weiß ich noch nicht. Aber ein toter Deutscher mitten in Lille, zehn Erschossene und fünfzig Deportierte, das muss ja irgendwo Spuren hinterlassen haben.«
    Beuzaboc stand auf. Vor meinen Fragen ging er jedesmal zur Toilette. Aufrecht, kaum gebeugt.
    »In Büchern«, murmelte er, als er das Zimmer verließ.
    Ich setzte mich an meinen Platz. Ich wollte diesmal weiter zurück, zu dem britischen Soldaten, den Beuzaboc versteckt hatte. Gewissenhaft platzierte ich mein schwarzes Notizbuch mit dem Gummiband, das Spiralheft, den schwarzen, den roten und den blauen Kugelschreiber aus meiner Tasche vor mir auf dem Tisch. Dann nahm ich meine Uhr ab, schrieb »Fünfte Sitzung« auf die rechte Seite und machte einen roten Kreis um das

Weitere Kostenlose Bücher