Die Legende unserer Väter - Roman
und Tiefen. Vom Grab des englischen Soldaten hatte er im heiteren Tonfall eines jugendlichen Heißsporns erzählt, derbegierig ist nach allem, Leben, Kampf, Tod, egal. Diesmal klang er wie ein sehr alter Mann, der vor diesem tödlichen Plakat für immer versteinert war.
Trompette wurde ein paar Wochen später in Lens zufällig verhaftet. Er hatte kommunistische Flugblätter in seinem Rucksack. Er wurde verhört, schwer misshandelt und in der Zitadelle von Lille erschossen. Er war sechzehn Jahre alt. Fives, der Eisenbahner, wurde nie gefasst. Der Hilfsarbeiter, ein einfacher, empfindsamer Mann, Waise und Witwer, war so erschüttert vom Tod der Geiseln, dass er neun Tage lang jede Nahrung verweigerte. Und Anschläge auf Züge nicht mehr aushielt. Auf Bahnhöfe ja, auf Depots, Brücken, Wartungsplattformen, Weichenherzen, Gütertransporte, Kräne, Hochspannungsmaste, Walzwerk-Transformatoren, seinetwegen auch auf Schienen, aber nicht auf Lokomotiven. Nach der Arbeit baute Fives Modelle von Dampfloks. Er hatte schon eine Pacific 231C und eine Chapelon 231E der Compagnie du Nord aus Metallabfällen zusammengelötet. Mit den deutschen Eisenbahnern von der Reichsbahn, die die Aufsicht hatten, diskutierte er Fragen des Materials. Die Eisenbahn war sein Arbeitsgerät, sein ganzer Stolz, alles, was ihm vom Leben geblieben war. Er sei depressiv geworden, sagte Beuzaboc, von Ängsten gequält, verletzlich, zerbrechlich wie Glas, verrückt. Und habe jede bewaffnete Aktion verweigert.
»Und wie hieß er wirklich?«
»Fives?«
Beuzaboc zuckte die Achseln. Das wisse er nicht mehr. Er sei sich nicht einmal sicher, ob er seinen wahren Namen je erfahren habe. Er wollte Fives genannt werden, nach dem Namenseines SNC F-Depots . Der Gymnasiast hieß Trompette. Trompette war tot. Fives übergeschnappt.
»Das war für den Feind, aber untereinander? Wie haben Sie sich angesprochen, im Café, auf der Straße, wenn Sie unter sich waren?«
Der alte Mann war aufgebracht.
»Fives hat mir einen Jungen vorgestellt und gesagt, er ist Gymnasiast und will mit den
boches
abrechnen. Und dass er Trompette heißt, weil er die Trompete so gut nachmachen kann, indem er sich die Nase zuhält. Mehr gibt’s dazu nicht zu erzählen.«
Beuzaboc erhob sich mühsam und ging zur Toilette. Ich las mir alles noch einmal durch. Ein Schweißtropfen fiel von meinem Kinn auf die Seite. Beuzaboc wollte den Ventilator nicht höherstellen, weil das Geräusch ihn störte. Er kam zurück, setzte sich in seinen Sessel. Sah auf die Uhr, dann auf seinen Stock. Ich ließ ein bisschen Zeit verstreichen. Ich ärgerte mich über mich. Warum verhörte ich einen alten Mann wie ein Polizist? Ohne Freundlichkeit in der Stimme, ohne ein Lächeln im Gesicht. Ich wusste nicht, wieso ich so hart war.
»Und wie sind Sie zu Beuzaboc gekommen? War das wie bei Fives und Trompette?«
Die Frage beschäftigte mich seit dem ersten Tag. Ich hatte sie nur noch nicht zu stellen gewagt. »Das wird Ihnen mein Vater erzählen«, hatte Lupuline gesagt.
Beuzaboc sah mich an. Ich kannte verschiedene Blicke von ihm. Den leicht spöttischen, lächelnden, ruhigen unserer ersten Begegnung. Den wachsamen, mit dem er meine Gefühle beobachtet hatte, als er mir von der Episode am Grab des englischen Soldaten erzählte. Den neuen, sehr unangenehmenmisstrauischen Blick, schweigend, mit blutleeren Lippen. Und den ängstlichen, verletzlichen, hilflosen Blick, der sich immer öfter ins Zimmer schlich. Und mir mitteilte, dass die Sitzung vorbei war.
Bei dieser Frage besänftigte sich sein Blick. Der alte Mann war wieder versöhnt. Beuzaboc sei sein Codename gewesen. An jenem Tag im Januar 1941 seien Fives, Trompette und Beuzaboc den drei feindlichen Uniformen über den Platz gefolgt. Pseudonyme. Sonst nichts. Er heiße eigentlich Ghesquière und habe Beuzaboc zu seinem Familiennamen gemacht. Er wolle keinen Orden, keine Ehrungen, keine Dankbarkeit, er habe nur seinen Partisanennamen behalten. Das sei eine Sache zwischen ihm und ihm. Ein kleines Abkommen mit der Erinnerung. Eine Hommage an die Jungs, die an seiner Seite gefallen seien, um deren Spur zu bewahren. Seither heiße er Beuzaboc. Nicht Ghesquière, nicht einmal Tescelin, nichts, nur Beuzaboc. Er lächelte, als er das erzählte. Wirkte ruhiger. Einmal lachte er sogar, während er sich die Stirn wischte. Brumaire war ins Zimmer getreten, auch Tristan, dessen alter Genosse. Sie hatten sich mir gegenüber eingerichtet, links und rechts des alten
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