Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
eingelassen hatte. Er rauchte seine Zigarette, trank sein Wasser und erzählte vom Krieg … aber nicht wie einer, der sich erinnert.
    Seit unseren ersten Treffen musste ich an meinen Vaterdenken. Ständig. Er sprach durch die Stimme und den Blick des alten Mannes. Durch sein Zögern und seinen Ärger. Deshalb war ich so ungeduldig. Ich hatte Angst, ihn zu verlieren, mich zu verlieren. Die Zeit war begrenzt, das wusste ich. Aber ich konnte Beuzaboc nicht so einfach gehen lassen wie Brumaire. Ihm gegenüber wurde ich zu einem tollpatschigen Kind, wie bei meinem Vater. Ich sah meinen Vater in Annequin, mit Maes und Deloffre. Im Regen radelnd. Ein Lächeln im Gesicht. Erkannte ihn in dem Blumenstrauß, der kindlichen Botschaft wieder. Bis ins Schweigen des alten Mannes war er präsent. Dann machte er sich auf einmal rar. Zog sich vom Zeremoniell des Erinnerns zurück. Brumaire verließ Beuzaboc. Und ich fragte mich, ob mein Klient die Wahrheit sagte.
    Wahrheit. Darauf war ich schon früher gekommen, in dem Moment, als ich in Beuzabocs Wohnzimmer Platz nahm. War alles, war er erzählte, wahr? Konnte es wahr sein? Könnte es auch nicht wahr sein? Und dann? Eigentlich ging mich das wenig an. Meine Aufgabe als Biograph war zuzuhören und zu berichten, Worte zu finden, um das Erzählte einzukleiden, Bilder, Farben, Klänge, Wunder. Es war meine Rolle, jeden Satz für wahr zu halten. Ich war kein Journalist mehr, kein Historiker und schon gar kein Richter. Ich hatte an nichts zu zweifeln. Ich fand mich ungerecht. Beuzaboc war nicht zu mir gekommen. Er hatte nie um etwas gebeten. Wie mein Vater hatte er bis zum heutigen Tag keinerlei Ansprüche geltend gemacht. Und in diesem Glutofen mit dem nutzlosen Ventilator, wo er im Halbdunkel der geschlossenen Fensterläden in seinem Sessel saß, die Hände auf den Stock gelegt, mit einer Zigarette fürs Gemüt und Wasser gegen denDurst, sollte er mir nichts, dir nichts einem Biographen und Ex-Journalisten Rede und Antwort stehen. Und dann drohte dieser Herr Niemand auch noch dem großen Mannsbild, dem Riesen mit dem Silberhaar, seinen Mut zu hinterfragen, Nachforschungen anzustellen in Büchern und Archiven und anderen Überbleibseln der flüchtigen Erinnerung.
    Ich schämte mich. Nie hatte ich mir solche Fragen gestellt. Der Kunde erzählt, der Biograph schreibt es auf. Das ist seine Pflicht, seine Aufgabe, seine Rolle. Unwichtig, wenn alles viel zu schön ist oder etwas zu ruhig. Wenn der eine gar nicht in Indien war, wie er behauptet. Wenn der andere Léon Blum nicht die Hand gedrückt hat. Egal, ob das Mädchen an seinem neunzehnten Geburtstag Miss Mayenne wurde oder nie. Alles nicht so bedeutend, nichts davon wirklich wichtig. Der Biograph ist nicht für die Tatsachen da. Er hält nur fest, was andere von sich, von ihrem Leben behaupten. Er ist dafür da, jedem seinen Teil der Wahrheit und seinen Teil von allem anderen zu geben. Es geht nicht um Lügen oder deren Widerlegung, sondern um ein Jonglieren am Rand von allem zugleich.
    Anfangs hatte ich in der lokalen Presse genau damit geworben: »Ich bin kein Historiker, kein Dokumentar. Sie bekommen das zu lesen, was Sie erzählen!« Und ich ging sogar noch weiter: »Einen lebendigen Bericht, einen echten Roman, der vielleicht die wahre Wirklichkeit, die offizielle Geschichtsschreibung ankratzt.« Einen echten Roman. Das musste ich aus Beuzabocs Geschichten machen. Ein gut geschriebenes Buch, das zum Lachen und zum Weinen brachte. Das war es, was Lupuline lesen wollte. Und was Tescelin erzählen sollte.
    Ich hatte getrunken. Zuerst eine Flasche korsischen Weißwein. Einen Clos culombu, den mir ein Freund aus Cervione geschenkt hatte. Beim ersten Bier hatte ich noch den Geschmack von Ananas, grünem Apfel und Himbeere im Mund gehabt. Ich öffnete mein Notizbuch und die Fenster. Hitze stieg aus der Nacht herauf. Animalische Schwüle. Ich schaffte es nicht, mich an den Herbst zu erinnern. Ich war die letzte Sitzung Satz für Satz noch einmal durchgegangen. Auch die mit dem deutschen Soldaten. Trotzdem. Ich beschloss, alles, was mir auffiel, rot zu unterstreichen. Wer waren Beuzabocs »Jungs«? Wer hatte ihn dazu bestimmt, sich um den englischen M G-Schützen zu kümmern? Wer hatte ihm und Fives und Trompette den Befehl erteilt, den deutschen Soldaten zu ermorden? Genau, das war’s: Wer waren seine Kameraden, seine Vorgesetzten? Welchem Widerstandsnetz gehörte er an? Es ging nicht um Überprüfung, sondern um ergänzende Informationen.

Weitere Kostenlose Bücher