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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ihn mit dem Fahrrad nach Abbeville zur Somme. Fluchthelfer schmuggelten ihn nach Paris und dann bei Bourges über die Demarkationslinie, von wo aus er zur amerikanischen Botschaft in Marseille gelangte. Das Alter des Briten und seinen militärischen Grad hatte Lupuline in Rot vermerkt, nicht jedoch seinen Namen. Ich wollte Beuzaboc dazu bringen, mir von der Zeit zu erzählen, die er allein mit diesem Mann auf der Flucht war. Die dritte Geschichte war schrecklich. Im Januar 1941 wurde ein deutscher Soldat in Lille von Partisanen erschossen. »Papa war der Kommandant«, hatte Lupuline dazu notiert. Zur Revanche wurden zehn Geiseln erschossen und fünfzig weitere deportiert. Die vierte Geschichte war noch schlimmer. Ein Sabotageakt gegen einen Zug am Bahnübergang von Ascq am 1. April 1944. »Papa war der Kommandant.« Schon wieder derselbe Satz am Rand. »Die Deutschen rächten sich noch in der Nacht«,schrieb Lupuline. »Sie haben alle Männer des Dorfes getötet.« In der letzten Geschichte ging es um die Verwundung Beuzabocs. Die Seite im Tagebuch war schwarz umrandet wie eine Traueranzeige. »Papa schwer am Bein verletzt.« Mit neun Ausrufezeichen. Das war am 10. April 1944. Die Alliierten hatten den Rangierbahnhof von Lille-Délivrance bombardiert. Und das Depot, die Werkstätten, die Arbeitersiedlung von Lomme. »456 Tote, 500 Verletzte.«
    Dreimal las ich das Heft durch. Es enthielt wenige Fakten, wenige Daten. Viel kindliche Empörung, kindlichen Zorn, kindlichen Stolz, viele zu große Worte. Aber das Wichtigste, Wertvollste war vorhanden: das nötige Gerüst. Ich würde mit dem alten Mann darüber reden müssen, und er würde es verstehen. Wir konnten nicht alles betrachten, alles berichten. Es sollte nicht noch ein Kriegstagebuch werden. Nicht noch ein Buch über Besatzung und Widerstand, über die Schweinereien der einen und die Größe der anderen. Davon schlummerten schon zu viele in den Bibliotheken. Ich wollte Tescelin Beuzaboc, ihn allein. Seinen Blumenstrauß auf dem Grab, seinen englischen Piloten, seinen erschossenen Deutschen, sein Märtyrerdorf, sein verwundetes Bein.

9
    Die Hitze wurde noch größer. Es war erst unsere vierte Sitzung, aber wir hatten uns bereits auf ein Zeremoniell geeinigt. Ich läutete, Beuzaboc machte mir auf, drehte sich um und ging ins Wohnzimmer. Ich schloss die Eingangstür. Wenn ich hineinkam, saß er schon in seinem Sessel, das Glas in der Hand. Auf dem Tischchen lag das rotweiße Etui mit einer Zigarette im Deckel. Vor jedem stand eine große Flasche eiskaltes Wasser. Ich trank, wenn ich durstig war. Er sah minutiös auf die Uhr, goss sich jede Viertelstunde ein Glas ein und trank in gezierten kleinen Schlucken. Lupuline hatte einen Ventilator in einer Ecke des Zimmers aufgestellt, die Fensterläden blieben den ganzen Tag geschlossen.
    Er wusste, dass er diesmal nichts zu lesen bekommen würde. Ich ging zum Tisch und legte Lupulines Heft vor mich hin. Beuzaboc schien überrascht zu sein, als er es sah. Er nickte.
    »Jetzt geht’s an Eingemachte, stimmt’s?«
    Ich lächelte. Ich hätte es ihm nicht zeigen müssen, aber ich wollte, dass es in unsere Arbeit Eingang fand.
    »Ans Eingemachte, stimmt’s?«, wiederholte Beuzaboc.
    »Wir wollen auf unser Thema zurückkommen.«
    »Auf mich?«
    »Auf Sie.«
    Er wirkte angespannt. Zündete sich schon vor meiner ersten Frage seine Zigarette an. Schweigend sah er mir zu, wie ich im Heft seiner Tochter blätterte. Er habe das auch gelesen, vor langer Zeit. Lupuline wollte es ihm schenken, aber das wollte er nicht. Sie sollte es für sich und die Kinder aufbewahren, die sie einmal haben würde.
    Der Ventilator rührte in der heißen Luft. Beuzaboc goss sich Wasser ein. Wischte sich mit dem Handrücken die Stirn.
    »Erzählen Sie mir von dem deutschen Soldaten?«
    Ich fragte ihn das mit gesenktem Blick, während ich Lupulines Worte überflog.
    »Der deutsche Soldat«, wiederholte Beuzaboc und stellte sein Glas wieder hin.
    »Was ist da passiert?«
    Mechanisch streckte der alte Mann die Hand nach der leeren Zigarettendose aus. Er war verstimmt. Sah mich nicht an. Schenkte sich Wasser nach. Die Stirn wie altes Leder. Sein Blick verlor sich zu den geschlossenen Fensterläden hin, während er trank. Dann begann er zu erzählen.
    Es war an einem Morgen im Januar 1941. Am zweiten oder dritten, das wisse er nicht mehr so genau. Jedenfalls am Anfang des Monats. Auf einem Platz in der Nähe des Bahnhofs von Lille. Der Feind war zu dritt.

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