Die Legende unserer Väter - Roman
bestimmt, sich um den englischen Sergeant zu kümmern.
»Von wem?«
»Von den Jungs.«
Mir lief ein Schauer über den Rücken.
Ich sah die verblichenen Fahnen vor mir. Die drei Veteranen am Grab. Mein Vater und seine Jungs. Wer war das beiBeuzaboc? Ich setzte ein Fragezeichen auf die linke Seite. »Die Jungs?« Welche Jungs? Ich wollte nicht mehr nachhaken, nur aufschreiben, was Beuzaboc erzählte. Das mit den Jungs würde ich schon noch erfahren, ein anderes Mal. Es war auch gar nicht so wichtig, wer Beuzaboc befohlen hatte, sich um den Engländer zu kümmern. Für den Augenblick interessierte mich nur das Zusammensein der beiden Männer zwischen dem 17. und dem 30. Dezember 1940, als sie ihr Versteck verließen und mit dem Fahrrad nach Abbeville fuhren, um dort die Somme zu überqueren. Beuzaboc erzählte, den Kopf nach hinten gelehnt.
Wimpy war ein komischer Typ. Er hatte seine Harmonika gerettet und spielte sie trotz der Sicherheitsregeln, wobei er sie mit seinen großen Händen fast verdeckte. Er konnte kein Wort Französisch, Beuzaboc kein Wort Englisch. Sie unterhielten sich mit Händen und Füßen. Jeden Morgen zwangen sie sich zu Gymnastik, machten Liegestütze auf den Fäusten, Gesicht nach unten. Der Sohn des Bauern brachte ihnen eine Mahlzeit pro Tag, die sie bis zum nächsten Tag ausdehnten. Er fürchtete das Hin und Her zwischen Hof und Scheune. Es gab Milch, Wein und Zigaretten. Zu Weihnachten schickte der Bauer ihnen ein Hühnchen und eine Flasche Schnaps.
»Ch’est du sauté-al-clinqu«
, warnte der Junge. »Scharfes, hartes Zeug, ein Rachenputzer, noch heiß vom Brennen.«
Nachdem sie die Flasche geleert hatten, wollte Wimpy nach Hause. Zu Fuß, schwimmend, oder sich ein Flugzeug bauen, egal. Schrie, lachte, gestikulierte wild, um sich verständlich zu machen. Dann stürmte er hinaus in die Nacht, mit einem Stock in der Hand, um ganz allein die Krauts zu verjagen. Marschierte laut singend über die Landstraße. Dort habeBeuzaboc ihn eingefangen und gewaltsam in die Scheune zurückgeschleppt. Ihn hingelegt. Ihm über die Stirn gestrichen. Seine Hand gehalten. Nie zuvor habe er einem Mann die Hand gehalten und würde es auch nie wieder tun. Er habe ihm geschworen, er würde sein Land wiedersehen, seine Verlobte, seine Familie. Ganz sanft, auf Französisch. Er habe ein wenig gelallt, sein Kopf habe vom Schnaps geschmerzt, sein Hals sei steif gewesen, seine Hände hätten gezittert. Mit ausgestreckten Beinen habe er am Boden gesessen, den Kopf des englischen Soldaten auf dem Schenkel. Und den Flieger fünf Namen schluchzen gehört. Die seiner fünf Kameraden. Er habe ihm die Hand gedrückt. Er habe gefroren. Er habe sich vor und zurück gewiegt, während der Tag durch die Türritze kroch, und das Schluchzen mit einer betrübten Grimasse erwidert.
Beuzaboc stand auf, um sich eine zweite Zigarette zu holen. Ich hatte immer nur eine in der rotweißen Blechdose auf dem Tischchen gesehen. Der Rest des Päckchens war in einer Schublade versteckt.
»Ihretwegen muss ich jetzt die von morgen rauchen, das ist gemein«, sagte der alte Mann.
»Tut mir leid. Wollen Sie die Sitzung beenden?«
»Dazu ist es zu spät, jetzt sind wir schon mal da.«
Er setzte sich in den Sessel. Wischte sich wieder den Hals, die Stirn, das Gesicht und die Hände. Dann setzte er seinen Bericht mit dem Weihnachtsmorgen fort.
11
An diesem Tag ging ich zu Fuß nach Hause. Ich hatte das Bedürfnis, in Ruhe ein Stück zu gehen. Ich konnte mich nicht einfach an meinen Schreibtisch setzen und arbeiten. Ich musste nachdenken. Worüber? Das wusste ich selbst nicht. Irgendetwas rumorte in mir. Eine Ahnung, die von weither kam, eine Erregung, der Anfang eines Aufruhrs. Die Pest des Zweifels. Auf der Straße war es entsetzlich heiß. Seit ein paar Tagen krempelte ich meine Hemdsärmel hoch und öffnete meinen Kragen. Alle, denen ich begegnete, schienen auf der Suche nach Wasser zu sein. Frauen ließen ihre Tasche stehen, um mit beiden Händen eine Flasche zu halten. Es würde bald dunkel werden, doch die Hitze ließ nicht nach. Junge Männer gingen mit nacktem Oberkörper. Mädchen kühlten ihre Füße in einem Brunnen, die Schuhe aufs Trottoir geworfen. Ich hätte gern mit Lupuline telefoniert. Um mir Ermutigung oder Rat zu holen, um ihre Stimme zu hören. Ich mochte diese Frau. Sie beruhigte mich. An diesem Abend in der ermatteten Stadt brauchte ich sie. Weil … weil … Irgendetwas stimmte nicht. Obwohl Beuzaboc sich auf das Spiel
Weitere Kostenlose Bücher