Die Legende unserer Väter - Roman
Über den Kies gehen wie Beuzaboc damals. Es war früh, das rote Gittertor stand offen. Bevor ich eintrat, streifte ich an der alten Zementmauer entlang. Strich mit der Hand darüber. Betrachtete die neuen und alten Backsteinhäuser. Die schwarzen Fensteröffnungen, aus denen die drei Jungen auf dem Fahrrad vielleicht beobachtet worden waren. Die Muster der Stromleitungen am Himmel über den Dächern. Wie im November 1940 hörte man von fern Hunde bellen, furchtsam oder wütend. Beuzaboc hatte mir von dem Blumenstrauß erzählt, und ich hatte es aufgeschrieben. Warum also kam ich hierher? Um der Geschichte ein paar Reflexe oder Farbtupfer hinzuzufügen vielleicht. Ein paar Kiesel, die Rundung des Grabsteins, eine besondere Qualität der Stille. Ich betrat den alten Gemeindefriedhof. Ich stand an der Schwelle eines anderen Lebens. Versuchte, mir den alten Mann als jungen vorzustellen. Novemberregen, Wind in den Haaren, zwei Freunde dahinter. Er war einundzwanzig. Hielt eine englische Fahne versteckt. Schob sein Fahrrad mit einer Hand die Landstraße entlang. Ein schwerer Laster fuhr vorbei. Jetzt war es Juli. Schweißtropfen liefen mir über den Rücken wie einelangsame Spinne. Da war die Stelle, links, wie Beuzaboc es beschrieben hatte. Neun Gräber, nicht acht. Albert Osborne als Zweiter. Ich schrieb alle Namen ab, und ich weiß, warum. Dafür wurden sie in Stein gemeißelt, um Jahre später auf ein kariertes Blatt geschrieben und laut vorgelesen zu werden. Also las ich sie laut vor: Davis, gefallen am 17. Juli 1915. Osborne, gefallen am 6. Juli 1915. O’Shea, gefallen am 20. Mai 1915. Reilly, gefallen am 24. Juli 1915. Long, gefallen am 16. Oktober 1915. Birkinshaw, gefallen am 16. Oktober 1915. Pepperday, gefallen am 28. Januar 1916. Monday, gefallen am 6. Juli 1915. Und schließlich Shaw, der Neunte, gefallen am 28. Mai 1940, erst etwas entfernt verscharrt vom Besatzer, zwischen drei deutschen und einem französischen Soldaten, 1947 exhumiert und an die Seite seiner Brüder gebettet. Ich stellte mir vor, wie die drei Jungen, Beuzaboc, Maes und Deloffre, vor diesen Männern salutierten. Noch einmal warf ich mir mein Misstrauen vor. Noch einmal sah ich meinen Vater lächelnd abwinken und mir die Antwort auf meine Fragen verweigern.
Mit einem anderen Bus fuhr ich im Sonnenschein zur Festung von Bondues. Im Résistance-Museum studierte ich die Zeitungen vom Januar 1941. Am zweiten oder dritten oder vierten wollte mein alter Mann den deutschen Soldaten auf der Straßenbahnplattform erschossen haben, im Januar jedenfalls. Ich blätterte. Das »Grand Echo du Nord de la France« berichtete von einem Mord: Ein gewisser Joseph tötete die zwanzigjährige Modistin Renée, weil sie ihn abgewiesen hatte. Er stach mit der Schere auf sie ein und warf sie in die Lys. Doch der Fluss war gefroren. Und Renée atmete noch. Joseph versuchte erst, das Eis mit einem Stein aufzuschlagen,und zerschmetterte dann der jungen Frau die Stirn. Sonst keine Todesmeldung aus der Region in diesen Tagen. Am Mittwoch, dem 1. Januar 1941: nichts. Am 2. Januar: auch nichts. Am 3. ein kleiner Zwischenfall ausgerechnet in der Straßenbahn von Lille nach Tourcoing, auf deren Plattform in diesen Tagen der deutsche Soldat gestorben sein sollte. Am 4. nichts. Am 5. wieder nichts. Nichts. Im Januar 1941 wurde in der Region Lille niemand erschossen. Im Untergrundblatt der lokalen Résistance-Gruppe, »Les Petites Ailes«, las ich immerhin vom Tod eines deutschen Soldaten am 14. Januar. Doch der brachte sich selbst um. Er war an der Bahnstrecke in Haubourdin südlich von Lille stationiert gewesen und hatte sich mit dem Gewehr in den Bauch geschossen, den Abzug mit einem Eisendraht am Fuß befestigt. Das war alles. Ich dehnte meine Recherchen aus. Am 20. April 1942, fünfzehn Monate später, war tatsächlich ein Besatzer in Lille erschossen worden. Aber nicht vormittags, nicht auf der Plattform einer Straßenbahn und nicht von einer einzigen, sondern von vier Kugeln, abgefeuert um 22.45 Uhr von einem einzelnen Mann auf der Place des Reigneaux. Wie in Beuzabocs Geschichte wurden zur Vergeltung zehn Geiseln erschossen und fünfzig weitere nach Deutschland deportiert.
Ich zitterte ein wenig, als ich die Zeitungen zu diesem Datum durchsah. Ich war ganz Journalist und zugleich sehr nervös. Blätterte in Büchern, zog Flugblätter aus Klarsichthüllen, strich Dutzende Dokumente glatt. Im April 1942 wurden von der lokalen Résistance offenbar drei Anschläge
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