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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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verübt. In Bruay. In Méricourt. In Lens überfielen am 11. April drei Männer den Posten am Pont Césarine und töteten zwei Wachen. Die Männer waren kommunistische Kumpel, es fiel mirnicht schwer, ihre Namen herauszufinden: Charles Debarge, Lokalkorrespondent der »Humanité«, Moïse Boulanger und Marcel Ledent. Kein Fives, kein Trompette, kein Beuzaboc. Keine vagen, verwehten Erinnerungen, kein Schweigen oder Zögern. Drei Partisanen, zwei Feinde, bekannte Tatsachen, in eine marmorne Gedenktafel graviert.
    Ich wusste nicht weiter. Das kollektive Gedächtnis hatte das Attentat im Januar mit Beuzaboc als Kommandant nirgends festgehalten. Es hatte in dieser extremen Kälteperiode nur Frost und Rationierung verzeichnet. Öl war alle, Milch, Mehl, Butter, Trockenfrüchte waren Mangelware. Fleisch vom Schlachter gab es nicht mehr. Daran erinnerte sich die Stadt. Städte vergessen nie etwas. Anscheinend hatte ein Franzose 1941 einen Deutschen angegriffen, aber im Dezember, nicht im Januar. Und in Dinan, nicht in Lille. Ange Debreuil war Matrose auf einem Handelsschiff. Er war betrunken. Bekam mit einem Soldaten Streit. Wurde wütend. Trat ihn in den Hintern. Und wurde dafür erschossen. Heute gibt es eine Ange-Debreuil-Straße in Dinan. Die Geschichte erinnerte sich an einen Arschtritt, aber einen Genickschuss sollte sie vergessen haben?
    Wie von einer Totenwache kam ich aus der Festung von Bondues. Beuzaboc war ein Lügner. Ich ging zum Gedenkhof im Inneren des Forts, wo achtundsechzig Partisanen von den Nazis erschossen worden waren. Ein Hahn stolzierte ruckend über einen Hügel mit fettem Gras, mechanisch nickend und den schwarzen Schwanz gereckt.
    ***
    Lupuline kam am 28. Juli zu mir. Ich hatte um dieses Treffen gebeten. Sie dachte, ich wollte einen Vorschuss oder Spesen. Ich legte ihr Kinderheft auf den Tisch. Sie nahm einen runden Fächer aus bedrucktem Papier aus ihrer Tasche.
    »Probleme?«
    Lächelnd verneinte ich. Ich hätte zwei, drei Dinge mit ihr zu klären, wir kämen rasch voran, ich wolle mich nur vergewissern, dass ich mich nicht verrannte. Wir hätten über das Grab Albert Osbornes gesprochen. Das sei ein sehr schöner Moment gewesen, ihr Vater habe dabei wie ein Jüngling geklungen. Lupuline sah mich an. Sie hatte wirklich den Blick Beuzabocs. Metallisch und sanft zugleich. Sie fächelte sich Luft zu, den Kopf zur Seite geneigt. Dann erwähnte ich den deutschen Soldaten. Fives, Trompette, den Genickschuss in der Tram und die Flucht auf dem Fahrrad. Blätterte in ihrem Heft und ließ sie nicht aus den Augen.
    »Das war doch im Januar 1941?«
    Sie könne sich nicht erinnern. Sie habe alles aufgeschrieben, außer dem Datum.
    »Haben Sie darüber nicht mit meinem Vater gesprochen?«
    Doch, wir hätten über das alles gesprochen. Ich wolle mich nur vergewissern, wie gesagt. Sie fächelte. Ich blätterte. Sprach von Wimpy, dem englischen Piloten. Hier hatte Lupuline nichts vergessen. »Das Flugzeug ist am 17. Dezember 1940 im Morgengrauen abgestürzt.« Ich wiederholte das Datum. Und notierte ihre roten Schuhe auf einer linken Seite.
    »Morgen sprechen wir über das Attentat von Ascq«, sagte ich.
    Lupuline wiegte den Kopf.
    »Das ist ganz besonders schmerzhaft für ihn, glaube ich.«
    »Wegen des Massakers?«
    »Ja.«
    Ich bat sie, mir davon zu erzählen. Wie ihr Vater von dem Drama berichtet habe. Nur einmal? Mehrfach? Ob sie ihre Aufzeichnungen bearbeitet habe, mehr wissen wollte? Nein, nie. Lupuline lächelte. Alles, was in ihrem Heft stehe, seien die Worte ihres Vaters. Schlecht verstanden manchmal, falsch geschrieben vielleicht, aber von ihm. Nie sei sie über das hinausgegangen, was er ihr erzählt habe. Sie habe auch gar nicht mehr gewollt. Das habe ihr vollauf genügt. Ascq vor allem. Da sei ihr Vater sogar einmal aus ihrem Zimmer gestürzt. Er hatte gerade beschrieben, wie die SS in die Stadt einmarschiert sei. Noch einmal wiederholt, dass dieser Zug nie hätte entgleisen dürfen. Dass dies der Anschlag zu viel gewesen sei. Dass er nie, nie mehr so schlafen könne wie vor dieser Nacht im April. Dann sprang er vom Hocker, riss die Tür auf und stürzte hinaus. Das war das letzte Mal, dass er vom Krieg erzählte. Am nächsten Tag sagte er zu ihr, er habe sie jetzt genug gelangweilt. Der Krieg sei eine Albtraummaschine. Er mache sich große Vorwürfe. Nun sei damit Schluss. Sie solle es einfach machen wie alle anderen und abends ein Buch lesen oder vor dem Einschlafen ein bisschen träumen. Er

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