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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Der junge Beuzaboc konnte nicht allein gehandelt haben. Er musste Mitglied eines Verbands, einer Truppe, einer geheimen Bruderschaft gewesen sein … Ich wunderte mich, dass ich nicht gleich damit angefangen hatte. Dass ich ihn nicht als Erstes nach der Struktur der Gruppe gefragt hatte, in der er sich engagierte. In meiner Jugend hatte ich mich für Widerstandsnetze interessiert.
Turma-Vengeance
natürlich, aber auch für
Franc-Tireur
,
Combat
,
FTP-MOI
von Missak Manouchian,
Carmagnole-Liberté
, die
Groupe du Musée de l’Homme
. Der alte Mann hatte mich so beeindruckt, dass ich kein einziges Mal daran gedacht hatte, ihm diese schlichte Frage zu stellen.
    Ich war immer noch am Unterstreichen. Ich wollte den Namen des deutschen Soldaten wissen. Das exakte Todesdatum.Den Ort der Erschießung. Ich wollte Fives finden, sofern er noch lebte. Und hören, was er zu sagen hatte. Überhaupt andere Stimmen hören als die meines Klienten. Den Namen des englischen M G-Schützen erfahren. Ihn finden. Damit er mir vom Flugzeugabsturz, dem Versteck im Schuppen, dem Schnaps und seiner Verzweiflung berichtete. Ich wollte Albert Osborne die Ehre erweisen. Durch das Friedhofstor zu seinem Grab gehen und es mit einem Strauß Gartenblumen schmücken. Ich musste über das einfache Niederschreiben hinauskommen. Diese Biographie sollte meine schönste werden, dieses Buch das größte. Ich hörte Händel und berauschte mich an der stummen Hitze. Ich wollte wissen, warum der alte Mann mich schließlich doch treffen wollte. Und er musste mir auch noch den Rest erzählen, das Gemetzel von Ascq und die Bombardierung von Lille-Délivrance. Es war drei Uhr morgens. Ich hatte mein Notizbuch zugeklappt. Morgen würde ich in die Bibliothek gehen und in den entlegenen Winkeln der Geschichte nach allem suchen, was seine Geschichte größer machen könnte. Für Beuzaboc, für Lupuline, für mich und in Erinnerung an meinen Vater.

12
    Die Sprengung der Schienen am Bahnübergang der kleinen Stadt Ascq in der Nacht des 1. April 1944 war eine der beeindruckendsten Geschichten in Lupulines Tagebuch. Nicht die Operation selbst, nicht die unbedeutenden Schäden an einem deutschen Militärtransport, sondern die Folgen der Aktion. Das Massaker, das die deutschen Soldaten unter den Bewohnern von Ascq anrichteten. Der Bericht über die Repressalien umfasste zwei Seiten. In Mädchenschrift, mal blau, mal rot, mit Ausrufezeichen am Ende jedes Satzes.
    Ich wollte mehr darüber erfahren. In Büchern und wissenschaftlichen Arbeiten danach forschen. Ich wollte dem alten Mann mit fertigen Fragen gegenübertreten, durch die gemeinsame Erschütterung ein neues Einverständnis erreichen, ich wollte den Weg mit ihm zusammen gehen. Also machte ich mich an die Arbeit.
    Es hatte mit zwei Anschlägen der Résistance auf das regionale Schienennetz angefangen. Eine Sprengladung am 27., eine am 30. März. Die deutsche Polizei hatte Ascq umstellt, die Einwohner verhört, den lokalen Behörden gedroht. Trotz des feindlichen Drucks und trotz der Befürchtungen der Einwohner hatten die Partisanen eine dritte Aktion beschlossen. Eine Ladung Plastiksprengstoff auf einer Weichenzunge. Am1.April 1944, in der Nacht vor Palmsonntag. Ziel war eigentlich ein Güterzug, aber ein Militärtransport hatte die Vorfahrt beansprucht. Darauf sechzig Panzerfahrzeuge und vierhundert Männer der 12. Panzer-Division, einer aus der Hitlerjugend rekrutierten S S-Truppe , die jüngsten gerade sechzehn. Anführer war der sechsundzwanzigjährige Walter Hauck. Das Gewicht des Triebwagens löste die Explosion aus. Doch die Bombe war eher ein Knallfrosch. Nichts passierte. Zwei Waggons mit Raupenfahrzeugen entgleisten, ohne umzukippen. Der Reifen eines Spähpanzers war beschädigt, der Tachometer eines Lieferwagens kaputt. Achsen und Felgen zweier Motorräder ramponiert. Es war 22.44 Uhr. Die S S-Leute sprangen aus dem Zug und stürzten sich auf die Stadt.
    Ich hatte schon von Ascq gehört. Der Name klingt hierzulande wie Tulle oder Oradour. Aber noch nie hatte ich mich in die Einzelheiten des Dramas vertieft. Drei Tage lang habe ich nur gelesen. In der Bibliothek, zu Hause, auf Bänken in der Stadt. Ich sah die SS in Ascq einmarschieren. Ich sah sie nachts morden. Augenzeugen hatten ausgesagt, sie seien wie wilde Tiere gewesen, hätten dabei gesungen und gelacht. Sie gingen die Straßen entlang und traten Tür um Tür ein. Sie suchten die Männer. Und knallten sie ab. Im Stellwerk, entlang der Gleise, im

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