Die Legende unserer Väter - Roman
diese Menschen überleben und als Worte weiterexistieren konnten, um später, im Frieden, in unseren Briefen, unseren Stiften, unseren Mündern zu sein. Wie wir nach diesen Menschen noch »Adieu«, »Grüße« oder »Kummer« schreiben konnten. Und was aus unseren Worten geworden wäre ohne die ihren.
Ich empfand Hass für ihre Henker, Zorn und Abscheu für das Vergessen. Ich verließ meine Wohnung. Spazierte durch Lille, um den nächtlichen Bahnhof, vorbei an den schließenden Bars. Warf mir vor, jetzt hier zu sein, in dieser stumpfsinnigen Hitze. Stellte mir einen Soldaten vor, graugrün vor mir im Dunkel, das Käppi an seiner Koppel, den geöffneten Jackenkragen, den Säbel an der Hüfte. Ich sah Beuzaboc und Fives und Trompette ihre Fahrräder schieben. Und sagte mir, Töten ist menschlich. Ich näherte mich der Uniform. Und schoss. Und? Nichts. Ein Stahltröpfchen trifft auf Leder. Ein Mann, den man nicht kannte, fällt. Ein Blick erlischt, den man nicht aufleuchten sah. Ich konnte meinen Vater verstehen. Ich wäre gern aus demselben Stoff gewesen.
Ich ging in ein Café. Trank ein Bier. Und noch eins. Beuzaboc war nirgendwo dabeigewesen. Er war bloß ein alterMann. Ein Nichtsnutz mit zu hellen Augen, der seinen Stock malträtierte und pro Tag eine Zigarette rauchte. Ich hatte keine Spur von ihm gefunden. Und die Geschichte bewahrte den Namen jedes Opfers und jedes Kämpfers. »Papa war der Kommandant«, hatte Lupuline in ihr Tagebuch geschrieben. Und wovon, kleines Mädchen? Wo war er denn, dein Papa? Im Bataillon der Tapferen jedenfalls war er ein Unbekannter. Sein Name steht nicht in den Büchern und auf den Gedenktafeln auch nicht. Er kommandierte nur die Fantasien in deinem Kinderzimmer. Und du warst sein Soldat, sein künftiger Zeuge. Du ganz allein hast seine befreiten Massen, geschwenkten Fahnen, Orden und Ehren verkörpert. Er hatte nur dich. Mit dir hat er geträumt. Mit dir hat er Widerstand geleistet. Mit dir lebte er sein Leben als Mann.
Ich ging nach Hause. Es war schon fast hell. Die sommerliche Dämmerung, in der die Nacht mit dem Danach verschmilzt. Ich legte mich hin. Und las noch einmal die Geschichten vom Friedhof, vom Tod des Deutschen und von der Rettung des Engländers durch, wie ich sie in mein Notizbuch geschrieben hatte. Und noch einmal in Lupulines Heft. Und ärgerte mich über mich: Das war alles sie! Diese Geschichten stammten von ihr! Ascq hatte nicht der Vater, sondern die Tochter erfunden. Vielleicht hatte sie seine Geschichte mit der Geschichte des Krieges verwechselt. Vielleicht hatte er ihr von Ascq erzählt, um seine Wut zu erklären.
Womöglich würde Beuzaboc sich über meine Fragen wundern. Große Augen machen. Abwinken. Den Kopf schütteln. Nein, damit hätte er nichts zu tun. Da müsse Lupuline etwas durcheinandergebracht haben. Er sei nie in Ascq gewesen. Aber unter die Haut gegangen sei es ihm natürlich schon. Ersei auch beim Begräbnis der Opfer gewesen. Und als er dort vor den aufgereihten Särgen gestanden sei, habe er sich geschworen, dem Kind, das er einmal haben würde, von diesem Verbrechen zu erzählen. Von den ermordeten Partisanen, von Delécluse, Gallois, Marga, Monnet, Depriester, Mangé. Immer und immer wieder.
Ich beschloss, Lupuline anzurufen. Um sicher sein zu können, dass es so war. »Papa war der Kommandant.« Natürlich war er das. Nur nicht in dieser Nacht. Nicht von diesen Männern. Das würde Lupuline zu mir sagen. Natürlich würde sie das zu mir sagen. Wie immer lächeln und sich entschuldigen, dass ich umsonst nachgeforscht hätte. Auch Beuzaboc würde lächeln. Und alles wäre wieder in Ordnung. Der alte Mann in seinem Sessel, ich an dem großen Tisch, die Wasserflaschen, die Zigarette, der Ventilator, die offenen Fenster und das Halbdunkel hinter den geschlossenen Fensterläden.
Ich legte das Tagebuch weg. Fand mich ungerecht und lächerlich. Ein talentloser Journalist, der oberflächlich recherchierte und alles verwechselte. Der sich an den Erinnerungen der anderen rächte, weil er das Andenken seines Vaters nicht gewahrt hatte. Ich machte ein Bier auf, das letzte nach der durchwachten Nacht, ein kühles Hoegaarden. Blieb liegen. Trank einen Schluck. Legte den Kopf auf das Kissen. Und schlief in meinen Kleidern ein, bei Licht und offenen Fenstern, schweißgebadet. Mit Reue in der Seele, Magenkrämpfen und schmerzendem Kiefer.
13
Ich fuhr nach Annequin, zum Grab des Soldaten Osborne. Ich wollte den Platz, den Himmel darüber sehen.
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