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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Steinbruch, vor dem Pfarrhaus, in den Straßen, auf den Feldern der Umgebung. Junge, Alte, Flüchtende oder Resignierte, alle, die sie fanden, in kleinen Gruppen, mit erhobenen Händen, von vorn oder von hinten. Den Bäcker, den Pfarrer, den Abbé und seinen Vikar, den Feldhüter, den Patron des Bahnhofscafés, den Schlosser, den Tischler, den Krämer, den Gärtner, Eisenbahner, Arbeiter, entlassene Häftlinge. Ich schrieb jeden Namen in mein kleinesschwarzes Notizbuch. Sechsundachtzig Menschen hatten die Hitlerjungen ermordet. Pierre Brillet war fünfundsiebzig. Jean Roques, Schüler am Lycée Faidherbe in Lille, fünfzehn. Ich war müde. Von der Hitze und meinen unruhigen Nächten. Plötzlich musste ich weinen. Das sah mir nicht ähnlich. Ein kurzes Schluchzen. In der Bibliothek. Eine junge Frau hob den Kopf. Ich hustete. Versuchte, mir Beuzaboc vorzustellen. Und seine Jungs. Die läppische Bombe, die nicht den Stahl traf, sondern Leib und Leben so vieler Menschen. Ich wollte wissen, was dieses Massaker bei den Partisanen auslöste. Wie man noch töten, kämpfen, hoffen konnte, wenn die Antwort auf jeden Akt das pure Grauen war. Ich stand auf. Ging zum offenen Fenster. Die Hitze kroch in den Saal, schwül, unerträglich. Ich wischte mir mit beiden Händen Tränen und Schweiß aus dem Gesicht. Ich schämte mich, so über die alten Sachen zu weinen, war aber auch stolz, dass ich dem nachgab. Wieder dachte ich an meinen Vater. An all diese Dinge, mit denen er konfrontiert war. Ich wünschte mir so sehr, dass Beuzaboc ihm ähnelte. Aber Zweifel nistete sich ein. Eine stumme, verschlungene, scheußliche Gemeinheit wie der Geruch des Todes.

    Anschließend setzte ich meine argwöhnische Arbeit fort, ohne genau zu wissen, ob ich Beuzabocs Bericht ergänzen oder überprüfen wollte. Ich schrieb jeden Namen auf. Auch all die anderen Namen, auf die ich bei der Suche nach diesem einzigen stieß. Bald hatte ich die Partisanen vom 1. April 1944 gefunden. Die an der Operation von Ascq beteiligt waren. Die deshalb verhaftet, verurteilt und hingerichtet wurden. Ich hatte vor mir, was die Geschichte hergab. Und nirgendsein Beuzaboc. Kein Tescelin. Kein Ghesquière. Ich war nach Hause gegangen. Und las nun die Dokumente im Schein eines Biers. Mein Stift zitterte. In meinem Notizbuch standen die Namen Paul Delécluse, Eisenbahner, Henri Gallois, Eisenbahner, Louis Marga, Vorarbeiter der SNCF, Raymond Monnet, Eisenbahner, Daniel Depriester, Eisenbahner, Eugène Mangé, Eisenbahner. Alle erschossen am 7. Juni 1944 um 16.30 Uhr, am Tag vor der Landung in der Normandie. Alle gehörten sie dem Widerstandsnetz
Voix du Nord
an, wie Jeanne Cools, Marlière, Leruste, Lelong, Olivier, Cardon, Fiévet oder Capitaine Jean-Pierre. Ich hatte diese Frau und diese Männer vor Augen. Ich entdeckte ihr Leben, ihren Kampf, manchmal auch ihre letzten Worte.
»Wir werden mit der »Marseillaise« auf den Lippen sterben, und wir werden den Deutschen zeigen, dass auch wir für ein Ideal sterben können«
, schrieb Delécluse an seine Frau, nachdem er sich einen Besuch des Anstaltspfarrers verbeten hatte. Ich las:
»Natürlich hast Du die Freiheit, Dein Leben auf Deine Art neu zu gestalten, aber vergiss nicht, den Kindern von mir zu erzählen. Umarme meine und Deine Eltern von mir. Und grüße die anderen. Umarme auch Lucien, Marguerite, Claude, Claudine, Joséphine und entschuldige mich bei den anderen, wenn ich jemanden vergessen habe. Grüße auch Monsieur und Madame Debruyne und Mademoiselle Tassart. Gestern habe ich Gisèle, Maman Fernand und Raymond gesehen. Ich hätte auch Mimi noch gern gesehen, aber ich werde Euch bis zur letzten Minute vor Augen haben, und meine letzten Gedanken werden Euch gelten. Adieu, mein kleines Frauchen. Adieu, meine lieben Kinder, seid immer artig und macht Eurer Mama nicht zu viel Kummer. Euer Vater, der Euch alle sehr geliebt hat.«
    Ich fühlte mich sehr allein. Ich dachte an diesen Mann, an diese Menschen, die ein paar Minuten vor der Hinrichtung dem Pfarrer einen Zettel zusteckten. Ich sah ihre gebeugten Rücken, ihr nächtlich wirres Haar, die Bartschatten auf den Wangen, offene Hemden, Hosen ohne Gürtel und Träger. Ich sah die Falten auf ihrer Stirn, die leicht geöffneten Lippen, die Finger, die den Stift umkrampften. Ich sah das scheue Licht unter den Zellentüren, in dem sie nach ein paar Worten suchten. Ich las diese Sätze ohne Klage, ohne Schmerz, ohne Vorwurf an die Henker und fragte mich, wie die Worte

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