Die Legende unserer Väter - Roman
Wirkte ruhiger als an den vorangegangenen Tagen. Ließ sich Zeit. Legte den Stock auf den Boden, streckte die Beine aus und verschränkte die Hände über dem Bauch, was er sonst nie machte.
»
Nachlässigkeit
– Unachtsamkeit, Unordnung, Schlamperei. In Werkstätten, Depots, Bahnhöfen. Das war der wahre Feind der Deutschen. Das machte die Reichsbahnbeamten wahnsinnig.«
Beuzaboc erzählte, ich notierte. Es habe tausend Arten des Widerstands gegeben. Nur die strukturiertesten, die spektakulärstenseien in Erinnerung geblieben. Gelöste Schrauben, blockierte Schienen, entgleiste Züge, von Bomben zerrissene Waggons. Kinobilder,sagte er. Ein paar Jungs im Gänsemarsch nachts neben den Gleisen mit Schraubenschlüsseln oder armlangen, armdicken Seitenschneidern auf der Schulter.
»Und ich soll Ihnen was über Bleistift-Zeitzünder erzählen, ja?«
Ich beobachtete ihn unverwandt, ohne mit der Wimper zu zucken oder auf seine Frage einzugehen.
»Dann erzähl ich Ihnen mal was. Diese Zünder, die uns die Engländer schickten, waren praktisch. Und wissen Sie, warum? Weil man eine Bickford-Schnur nur anzünden brauchte und davonrennen konnte. Diese verdammte Sicherheitszündschnur brannte pro Sekunde einen Zentimeter. Du musstest sie so kurz wie möglich schneiden, damit die Flamme ihr Ziel auch erreichte. Der Stift dagegen war ein Zeitzünder. Wussten Sie das?«
Ich trank ein Glas Wasser. Beuzaboc nahm sein Taschentuch heraus und wischte sich damit übers Gesicht, wie ein Bauer sich schnäuzt.
»Das wussten Sie nicht, was? Jeder hatte seine Farbe. Bei den schwarzen Stiften hattest du zehn Minuten, um in Deckung zu gehen, bei den roten dreißig. Man konnte die Sprengladung deponieren und vergessen. Ein gelber Stift reagierte nach zwölf Stunden. Ein blauer brauchte vierundzwanzig Stunden bis zur Zündung. War es das, was Sie wissen wollten?«
Ich tat so, als machte ich mir Notizen. Seine Hand zitterte. Er zitterte. Tescelin Beuzaboc wurde von Schauern geschüttelt. Er beugte sich vor, nahm seinen Stock, erhobsich schwerfällig und ging zur Toilette am anderen Ende des Ganges. Ließ die Tür offen stehen und redete einfach weiter, während er pisste.
»Wissen Sie, wie man einen Zug hochgehen lässt? Wissen Sie das?«
Ich antwortete nicht.
Ich schaute in diese vertraut gewordene Dunkelheit.
»Man platziert einen Druckzünder unter der Schiene. Wenn der Zug drüberfährt, senkt sich die Schiene und löst eine Zündnadel, die auf den Zünder schlägt. Der zündet alles, eine Zündschnur, ein Stück Sprenggelatine 303 oder eine selbstgebastelte Granate, wenn einem das lieber ist.«
Er kam wieder zurück. Ein gebeugter Riese, das linke Bein schwächer als gewöhnlich. Er hatte die Spülung nicht gezogen. Er fingerte eine zweite Zigarette aus der Kommodenschublade und ließ sich schwer in den Sessel fallen. Sein Hemd hatte Schweißflecke auf Brust und Rücken.
»Ist es das, was Ihnen fehlt, Herr Biograph?«
»Wie haben Sie es am 1. April 1944 in Ascq gemacht?«, fragte ich.
»Wie bitte?«
»Beim Anschlag auf den Bahnübergang, welche Methode haben Sie da angewandt?«
Diesmal wirkte Beuzaboc überrumpelt. Er verstehe die Frage nicht. Ich hätte letztes Mal angekündigt, über den englischen Flieger sprechen zu wollen, und jetzt finge ich davon an. Warum hier? Warum jetzt? Warum spränge ich von 1941 auf 1940 und dann ohne jegliche Logik auf 1944? Ich hätte Lupulines Tagebuch nicht lesen sollen. Davon sei er überzeugt. Jetzt habe ihr kindliches Geschreibsel das Kommandoüber unsere Gespräche übernommen. Ich solle ihm zuhören, nicht ihn ausfragen. Es sei sein Leben und seine Art, darüber zu reden, das wiederholte er zweimal. Außerdem wisse er gar nicht mehr, wo er sei. Ich hätte ihn bei seiner Geschichte, seinem Erklären unterbrochen. Er holte Luft und legte die Hände auf den Knauf seines Stocks. Er zitterte immer noch.
»
Nachlässigkeit.
«
Das sollte ich mir mal anhören. Er habe genug von dem Mythos, von der Schlacht um die Schienen und dem Dynamit von den Kumpels oder dem englischen Plastiksprengstoff, von dem alle so schwärmten. Es habe noch einen anderen Widerstand gegeben, einen weniger bekannten, noch geheimeren, unorganisierten Widerstand. Einen Widerstand der kleinen Gesten,der kleinen Vergesslichkeiten,der kleinen Faulheiten. Einen Widerstand des Schleifenlassens, der den Feind viel Geld und Nerven gekostet habe. Neben den spektakulären Sabotageakten habe es eben auch den feinen Sand im
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