Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Zimmer.
Bald gibt es Futter, versprach ich dem hungrigen Welpen, der sehnsüchtig auf mich gewartet hatte. Obwohl mir alle Glieder weh taten, zwang ich mich, das Zimmer zu säubern, entfernte Fäustels Hinterlassenschaften und holte frische Bodenstreu. Fäustel schmollte, weil er den ganzen Tag allein gelassen worden war, und ich machte mir Sorgen, weil ich nicht einmal wußte, wie lange diese elende Ausbildung dauern sollte.
Als man damit rechnen konnte, daß die Bewohner der Burg den Schlaf der Gerechten schliefen, wagte ich mich hinaus, um Fäustel sein Fressen aus der Küche zu holen. Ich hatte Angst, daß Galen von meinem neuerlichen Ungehorsam erfuhr, aber was blieb mir anderes übrig? Mitten auf der großen Treppe entdeckte ich plötzlich einen flackernden Lichtschein, der sich mir näherte. Ich drückte mich gegen die Wand, überzeugt, von Galen auf frischer Tat ertappt worden zu sein. Aber dann war es der Narr, der die Stufen heraufkam, so weiß und bleich wie die Wachskerze, die er trug. Auf dem Napf in der anderen Hand balancierte er einen Wasserkrug. Wortlos bedeutete er mir, umzukehren.
Sobald wir in meinem Zimmer waren und die Tür hinter uns geschlossen hatten, drehte er sich zu mir herum. »Ich kann für dich auf den Welpen aufpassen«, sagte er trocken. »Aber auf dich kann ich nicht aufpassen. Benutze deinen Verstand, Junge. Glaubst du wirklich, etwas zu lernen, indem du dich von ihm malträtieren läßt?«
Leichtsinnig zuckte ich die Schultern und verzog vor Schmerz das Gesicht. »Das soll nur dazu dienen, uns abzuhärten. Es ist die Vorbereitung, bis er anfängt, uns ernsthaft zu unterrichten. Ich halte das aus. Aber« – ich gab Fäustel einzelne Heischstücke aus der Schüssel – »woher weißt du, was Galen uns zumutet?«
»Ah, das hieße, etwas ausplaudern«, versetzte der Narr munter, »und das kann ich nicht tun. Plaudern, meine ich.« Er schüttete Fäustel den Rest Fleisch hin, füllte seinen Wassernapf auf und erhob sich.
»Ich werde den Hund füttern«, sagte er. »Ich werde sogar versuchen, ihn jeden Tag etwas auszuführen. Was ich aber nicht tue, ist, seinen Unrat aufwischen.« Er blieb an der Tür stehen. »Da ziehe ich die Grenze. Du solltest entscheiden, wo du die Grenze ziehen willst. Und tu es bald. Sehr bald. Die Gefahr ist größer, als du ahnst.«
Dann war er fort, mitsamt der Kerze und seinen Orakelsprüchen. Ich legte mich hin und schlief ein, während Fäustel mit einem Knochen großer böser Wolf spielte und sich im Knurren übte.
Kapitel 15
Die Zeugensteine
Die Gabe, in ihrer rudimentärsten Form, ist die Übertragung der Gedanken von einer Person zur anderen. Man kann sie auf verschiedene Art nutzen. Während der Schlacht kann zum Beispiel der Befehlshaber einfache Informationen und Order unmittelbar an seine Offiziere weitergeben, falls diese Offiziere entsprechend ausgebildet sind. Jemand mit überdurchschnittlich großer Begabung ist in der Lage, auch ein unausgebildetes Bewußtsein oder den Verstand eines Feindes zu beeinflussen und ihm Furcht, Verwirrung oder Zweifel zu suggerieren. Menschen, die dies vermögen, sind rar. Doch ein Kundiger, dem die Gabe in besonders hohem Maße zuteil geworden ist, kann vermittels seiner Fähigkeit sogar die Uralten anrufen, über denen nur noch die Götter stehen. Gering ist die Zahl derer, die es gewagt haben, und geringer noch die Zahl derjenigen, denen ein guter Ausgang ihres Wagnisses beschieden war. Es heißt, die Antwort, die man von den Uralten erhält, ist vielleicht nicht die Antwort auf die Frage, die man gestellt hat, sondern auf die, die man hätte stellen sollen, und mag der Art sein, daß ein Mensch danach nicht weiterleben kann.
Denn während man mit den Uralten spricht, ist die Verlockung der Gabe am stärksten und am gefährlichsten. Dieser Verlockung zu erliegen, davor muß jeder Kundige sich allezeit hüten. Bei dem Gebrauch der Gabe empfindet er mit solcher Macht die Süße des Lebens und eine rauschhafte Verzückung, daß er unter Umständen vergißt zu atmen. Betörend ist dieses Gefühl immer und kann den Unvorsichtigen süchtig machen, aber die Ekstase der Verbundenheit mit den Uralten geht über menschliches Vorstellungsvermögen hinaus. Der Kundige, der vermittels seiner Gabe die Uralten anruft, läuft Gefahr, seiner Sinne und seines Verstandes verlustig zu gehen. Ein solcher Mann stirbt im Wahn, aber wahr ist auch, er stirbt in einem Wahn entrückter Glückseligkeit.
Der Narr hatte
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