Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
recht. Ich ahnte nichts von der Gefahr, in der ich schwebte. Mit jedem Tag hatte Galen uns fester in der Gewalt, mit jedem Tag wurde er grausamer und rücksichtsloser. Einige gaben auf und kamen nicht mehr. Merry gehörte dazu. Ich sah sie nur noch einmal. Mit verstörtem Gesichtsausdruck schlich sie in der Burg herum. Irgendwann erfuhr ich, daß Serene und die anderen Mädchen nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten, nachdem sie aus der Gruppe ausgeschieden war, und wenn sie später von ihr sprachen, dann in einem Ton, als hätte sie, statt sich nur einer weiteren Quälerei zu entziehen, eine gemeine, schäbige Tat begangen, für die sie in Ewigkeit keine Vergebung erhoffen durfte. Ich weiß nicht, wohin sie ging, nur, daß sie Bocksburg verließ und nie mehr zurückkehrte.
Wie das Meer an einem Strand die Kiesel vom Sand scheidet und entlang der Gezeitengrenze anhäuft, so schieden sich unter Galens Lob und Tadel seine Schüler in gut und minderwertig. Anfangs strebten wir alle danach, sein Primus zu sein. Nicht, weil wir ihn mochten oder bewunderten. Ich weiß nicht, was die anderen fühlten, aber in meinem Herzen existierte nichts anderes als Haß auf ihn. Ein Haß, der die Entschlossenheit nährte, mich von diesem Mann nie und nimmer brechen zu lassen. Ihm ein einziges Wort widerwilliger Anerkennung abzuringen hatte größeren Wert als höchstes Lob aus dem Mund eines anderen Lehrers. Seine ständigen Herabsetzungen bewirkten nicht etwa, daß ich mir ein dickes Fell zulegte, sondern ich glaubte vieles von dem, was er an mir bemängelte, und gab mir alle Mühe, die angeblichen Fehler in meinem Charakter auszumerzen.
Wir wetteiferten darum, uns in seinen Augen hervorzutun, und natürlich hatte er seine erklärten Favoriten. August, zum Beispiel – wir wurden oft angehalten, es ihm gleichzutun. Ich hingegen war der, auf den er es am meisten abgesehen hatte, und doch brannte ich darauf, mich vor ihm auszuzeichnen. Nach jenem ersten Mal war ich nie wieder der letzte auf der Treppe. Seine Schläge ertrug ich, ohne mit der Wimper zu zucken, wie Serene, die ebenfalls unter Galens Niedertracht zu leiden hatte. Sie entwickelte sich zu seiner fanatischsten Anhängerin und ließ sich nie wieder ein Wort der Kritik entschlüpfen, obwohl sie ihm nichts recht machen konnte und er sie weit häufiger schlug als jede der anderen Frauen. Um so unbeirrbarer strebte sie danach zu beweisen, daß sie alles ertragen konnte, und zeigte sich – von Galen selbst abgesehen – am unnachsichtigsten gegenüber jedem, der schwankend wurde oder sich erkühnte, Zweifel am Sinn und Zweck unserer Ausbildung zu äußern.
Der Winter schritt voran. Unser Turmdach war eine kalte, dunkle Welt und Galen ihr Gott. Er schmiedete uns zu einer Einheit zusammen. Wir betrachteten uns als eine Elite, erhaben, auserkoren für die Weihen der Gabe. Selbst ich, der ich Spott und Schläge erduldete, glaubte daran. Wer aus unserer Mitte die Segel strich, den verachteten wir. Gegen äußere Einflüsse schirmten wir uns ab: wir sahen nur und hörten nur Galen. Anfangs vermißte ich Chade, fragte mich, was Burrich und Prinzessin Philia tun mochten. Im Lauf der Zeit jedoch verloren solche Banalitäten für mich das Interesse. Sogar der Narr und Fäustel wurden mir fast lästig, so ausschließlich strebte ich danach, Galens Ansprüchen zu genügen. Doch es gab Augenblicke der tiefen Müdigkeit und Resignation, da war Fäustels Nase an meiner Wange der einzige Trost, den ich hatte, und Augenblicke, in denen ich mich dafür schämte, wie sträflich ich meinen vierbeinigen Freund vernachlässigte.
Nach drei von Kälte und unbarmherzigem Drill geprägten Monaten war unsere Gruppe auf acht Kandidaten zusammengeschrumpft, und die eigentliche Ausbildung begann. Gleichzeitig gestattete Galen uns ein gewisses Maß an Annehmlichkeiten und Würde. Kleinigkeiten, aber sie erschienen uns nicht nur als unvorstellbarer Luxus, sondern als Geschenke von Galen, für die man dankbar sein mußte. Ein Stück Dörrobst zu unserer mageren Kost, die Erlaubnis, Schuhe zu tragen, kurze Gespräche bei Tisch – mehr nicht, und dennoch waren wir bereit, ihm die Füße zu küssen. Aber damit fingen die Veränderungen nur an.
In einzelnen Bildern kehrt die Erinnerung zurück. Wie er mich das erste Mal mit der Gabe berührte. Wir standen auf der Terrasse, jeder ein großes Stück von seinem Nebenmann entfernt, da wir nur noch so wenige waren. Er ging von einem zum anderen, und vor jedem
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