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Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen

Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen

Titel: Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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das stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich setzte eine ausdruckslose Miene auf und bemühte mich, ihn anzusehen, als wäre nichts geschehen, denn ich wußte, falls ich den Blick abwandte, würde er mich der Unaufmerksamkeit beschuldigen.
    Zufrieden nickte Galen vor sich hin und setzte seinen Vortrag fort. Um die Gabe zu beherrschen, mußte er uns zuvor beibringen, uns selbst zu beherrschen. Strenge Askese war der Schlüssel dazu. Am nächsten Morgen sollten wir uns einfinden, bevor die Sonne über den Horizont stieg. Keine Schuhe, Strümpfe, Umhänge oder wollene Kleidungsstücke. Barhaupt und von Kopf bis Fuß peinlich sauber. Er hielt uns dazu an, seine Eß- und Lebensgewohnheiten zu übernehmen. Das hieß unter anderem Verzicht auf Fleisch, süße Früchte, Gewürze, Milch und allein der Gaumenfreude dienende Speisen. Erlaubt waren Haferbrei und kaltes Wasser, trocken Brot und gekochtes Wurzelgemüse. Jegliche ›überflüssige‹ Unterhaltung hatte zu unterbleiben, insbesondere mit Angehörigen des anderen Geschlechts. Er warnte uns ausführlich vor sinnlichen Begierden jeglicher Art, eingeschlossen das Verlangen nach Nahrung, Schlaf oder Wärme. Und wir erfuhren, daß er Anweisung gegeben hatte, für uns im Speisesaal einen getrennten Tisch aufzustellen, an dem wir unsere frugalen Mahlzeiten einnehmen konnten, ohne mit eitlem Geschwätz belästigt zu werden. Oder mit neugierigen Fragen. Den letzten Satz sprach er fast im Ton einer Drohung.
    Dann ließ er uns einige Übungen machen. Die Augen schließen und die Augäpfel so weit wie möglich nach oben verdrehen. Versuchen, sie ganz nach hinten zu rollen, als wollte man in seinen Kopf hineinsehen. Spürt ihr den Druck, der dabei entsteht? Stellt euch vor, was ihr sehen könntet, wenn es möglich wäre, einen Blick in das eigene Gehirn zu tun. Wäre es würdig und angemessen? Mit geschlossenen Augen auf einem Bein stehen. Ein Gleichgewicht finden, nicht nur des Körpers, sondern des Geistes. Verbannt alle unwürdigen Gedanken aus eurem Bewußtsein, und ihr könnt endlos in dieser Haltung verharren.
    Während wir versuchten, seinen Anweisungen Folge zu leisten, schritt er zwischen uns auf und ab. Das Pfeifen der Reitgerte verriet mir, wo er sich befand. »Konzentration!« befahl er oder: »Bemüht euch, bemüht euch wenigstens.« Ich selbst bekam die Gerte an diesem Tag viermal zu spüren. Nicht, daß er fest zuschlug, aber es war zermürbend, von einer Peitsche berührt zu werden, selbst wenn es nicht weh tat. Beim letzten Mal traf mich der Schlag hoch an der Schulter, die Lederschnur legte sich um meinen bloßen Hals, und die geknotete Spitze schnellte gegen mein Kinn. Ich zuckte zusammen, doch es gelang mir, auf einem Bein stehend, das Gleichgewicht zu halten und auch die Augen nicht zu öffnen. Als er weiterging, fühlte ich, wie an meinem Kinn ein Blutstropfen hervorquoll.
    Wir verbrachten den ganzen Tag oben auf diesem Turm. Er ließ uns erst gehen, als sie Sonne nur noch wie eine halbe Kupfermünze über dem Horizont zu sehen war und der frische Abendwind über die Terrasse strich. Nicht einmal hatte er uns eine Pause gegönnt, um etwas zu essen, zu trinken oder für andere Verrichtungen. Mit grimmigem Lächeln schaute er zu, wie wir an ihm vorbeidefilierten. Erst als die Tür sich zwischen ihm und uns geschlossen hatte, fiel der Bann von uns ab, und wir stürmten wie befreit die Treppe hinunter.
    Ich war ausgehungert, meine Hände von der Kälte rot und geschwollen und mein Mund ausgedörrt. Bei dem Versuch zu sprechen, hätte ich nur ein Krächzen herausgebracht. Den anderen schien es ähnlich zu gehen oder schlimmer. Ich wenigstens war an körperliche Anstrengungen gewöhnt, bei jedem Wind und Wetter, aber Merry zum Beispiel, ungefähr ein Jahr älter als ich, hatte bisher für Mistress Hurtig am Webstuhl gesessen. Ihr rundes Gesicht sah jämmerlich verfroren aus, und ich hörte sie mit Serene flüstern, die tröstend ihre Hand genommen hatte. »Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn er uns wenigstens beachtet hätte«, flüsterte Serene zurück. Mit Bestürzung sah ich, wie beide einen furchtsamen Blick über die Schulter warfen, ob Galen womöglich bemerkt hatte, wie sie miteinander redeten.
    Das Essen an diesem Abend war die freudloseste Mahlzeit, die ich je in Bocksburg eingenommen hatte. Es gab kalte Grütze, dazu einen Brei aus gekochten Rüben. Galen, der nicht mitaß, führte die Aufsicht. Keiner sprach, jeder hielt den Blick auf seinen Teller

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