Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Mitternacht. Ich lag wach, lauschte dem Knurren meines Magens und versuchte, wieder einzuschlafen, aber das hohle Gefühl in meinem Bauch ließ mich nicht ruhen. Endlich stand ich auf und tastete mich zu dem Tisch, auf dem Veritas' Tablett mit den Pasteten gestanden hatte, doch es war schon weggeräumt worden. Eine Weile debattierte ich mit mir selbst, aber die Bedürfnisse des Fleisches siegten über die Stimme der Vernunft.
Leise öffnete ich die Zimmertür und trat auf den schwach erleuchteten Gang hinaus. Die zwei Männer, die Veritas dort postiert hatte, sahen mich fragend an. »Hunger«, erklärte ich. »Kennt ihr den Weg zur Küche?«
Ich habe nie einen Soldaten gekannt, der nicht gewußt hätte, wo die Küche war. Zum Dank für die Auskunft versprach ich, ihnen etwas Eßbares mitzubringen. Auf Zehenspitzen huschte ich den Flur entlang zur Treppe. Als ich die Stufen hinunterging, war es ungewohnt, Holz unter den Füßen zu spüren, nicht Stein. Ich bewegte mich, wie Chade es mich gelehrt hatte, hielt mich im Schatten und ging dicht an der Wand, wo damit zu rechnen war, daß die Dielen nicht knarrten. Mein Verhalten kam mir ganz natürlich vor.
Die wenigen Posten, an denen ich vorbeikam, dösten zumeist vor sich hin, keiner rief mich an. Damals schrieb ich das meiner Geschicklichkeit zu, heute frage ich mich, ob sie einen mageren, halbwüchsigen Burschen für der Mühe wert hielten.
Die Küche war leicht zu finden – ein großer, offener Raum mit gekachelten Wänden und einem mit Steinplatten ausgelegten Fußboden, wegen der Brandgefahr. Es gab drei große Herde, in jedem schimmerte rötlich die für die Nacht sorgsam eingedämmte Glut. Trotz dieser späten – oder frühen – Stunde brannten mehrere Lampen. In der Küche einer Burg ist niemals wirklich Feierabend.
Ich sah die zugedeckten Pfannen und roch den zum Gehen hingestellten Sauerteig. Einen großen Topf Gulasch hatte man zum Warmhalten an den Rand eines der Herde geschoben. Ein Blick unter den Deckel zeigte mir, daß es nicht auffallen würde, wenn ein oder zwei Kellen fehlten. Ich kramte herum und füllte mir eine Schüssel. Von den eingewickelten Brotlaiben auf einer Stellage schnitt ich mir einen Knust herunter, in einer anderen Ecke entdeckte ich die in einem kleinen Wasserfaß kühl gehaltene Butter. Keine Delikatessen. Gott sei Dank keine Delikatessen, sondern die einfache Hausmannskost, nach der ich mich den ganzen Tag gesehnt hatte.
Meine zweite Portion war zur Hälfte aufgegessen, als ich leise Schritte hörte. Ich setzte mein entwaffnendstes Lächeln auf, in der Hoffnung, Koch oder Köchin hier könnten ebenso weichherzig sein wie die Herrscherin über die Küche von Bocksburg. Doch es war eine Dienstmagd im Nachthemd, eine Decke um die Schultern und ihr Kind auf dem Arm. Sie weinte, und ich wandte unbehaglich den Blick ab, doch sie nahm gar keine Notiz von mir. Nachdem sie den eingewickelten Säugling auf den Tisch gelegt hatte, holte sie eine Schüssel und ließ an der Pumpe Wasser hineinlaufen. Dabei redete sie halblaut vor sich hin. Mit der Schüssel beugte sie sich über das Kind.
»Hier, mein süßes Lämmchen. Hier, mein Liebling. Das wird dir helfen. Frisches, kühles Wasser. Oh, mein Herzblatt, kannst du nicht einmal mehr trinken? Dann mach das Mäulchen auf. Sei lieb und mach das Mäulchen auf.«
Ich sah zu ihr. Sie hielt in einer Hand die Schüssel und bemühte sich, mit der anderen dem Kind den Mund zu öffnen, wobei sie rabiater zu Werke ging, als ich es je bei einer Mutter erlebt hatte. Das Wasser schwappte über, während sie versuchte, dem armen Wesen etwas davon einzuflößen. Ich hörte ein ersticktes Gurgeln und dann ein würgendes Geräusch. Als ich aufsprang, um einzuschreiten, reckte sich der Kopf eines kleinen Hundes aus dem Bündel.
»Oh, er bekommt keine Luft! Er stirbt! Mein Herzblatt stirbt, und keiner will ihm helfen. Er ringt nach Atem, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Mein kleiner Liebling stirbt!«
Sie drückte den japsenden, zappelnden Schoßhund an sich. Der Ärmste schüttelte wild den Kopf, dann wurde er plötzlich ruhig. Wäre nicht sein Röcheln gewesen, hätte man ihn für tot halten können. Seine dunklen, vorquellenden Augen begegneten meinem Blick, und ich spürte den Anprall der panischen Angst und der Schmerzen, die das Tierchen empfand.
Sachte. »Langsam«, hörte ich mich selbst sagen, »du hilfst ihm nicht, wenn du ihm die Luft abschnürst. Er kann ja kaum atmen. Stell ihn hin.
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