Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
seinen Hals schob.
Hoffentlich fügte ihm das Ding keine Verletzungen zu, aber wenn doch, nun, er war ohnehin dem Tod geweiht. Vorsichtig drehte ich den Haken, während der Hund strampelte und jaulte und seine Herrin von oben bis unten vollmachte. Ich bekam die Gräte zu fassen und zog mit einer gleichmäßigen, ruhigen Bewegung den Haken zurück.
Begleitet von einem Schwall Speichel, Galle und Blut kam der Übeltäter zum Vorschein. Ein garstiger Knochen, keine Fischgräte, sondern der Splitter des Brustbeins von einem kleinen Vogel. Ich warf ihn auf den Tisch. »Und er sollte auch keine Geflügelknochen bekommen«, sagte ich barsch.
Es sah nicht aus, als hätte sie mich gehört. Das Hündchen saß dankbar schnaufend auf ihrem Schoß. Ich hielt ihm die Schale Wasser unter die Nase. Es roch daran, schlabberte etwas und rollte sich dann erschöpft zusammen. Sie nahm es auf die Arme und wiegte es behutsam hin und her.
»Es gibt etwas, worum ich dich bitten möchte«, fing ich an.
»Alles.« Sie hatte das Gesicht im Fell des Tieres vergraben. »Sprich, und es gehört dir.«
»Erstens, hör auf, ihn von deinem Teller zu füttern. Gib ihm die nächste Zeit ausschließlich rotes Fleisch und gekochtes Getreide. Und für einen Hund seiner Größe nicht mehr, als in deine hohle Hand geht. Und trag ihn nicht ständig auf dem Arm. Er soll laufen, damit er Muskeln entwickelt und seine Krallen abwetzt. Und bade ihn. Von dem guten Futter riecht er schlecht, am ganzen Körper und aus dem Maul. Wenn sich nichts ändert, wirst du höchstens ein oder zwei Jahre Freude an ihm haben.«
Entsetzt blickte sie auf, ihre Hand flog zum Mund. Irgend etwas an dieser Bewegung, so ähnlich dem unbewußten Tasten nach ihrem Schmuck beim Festmahl, öffnete mir die Augen. Es war Lady Grazia, der ich hier eine Standpauke hielt. Und durch meine Schuld hatte ihr der Hund über das ganze Nachtgewand gepinkelt.
Mein Gesichtsausdruck muß mich verraten haben, denn sie lächelte erfreut und drückte das Hündchen fester an die Brust. »Ich werde tun, was du sagst, Junge. Aber für dich selbst? Gibt es nichts, was du als Belohnung haben möchtest?«
Sie dachte wohl an einen Kurant oder einen Ring oder auch eine Stellung in ihrem Haushalt, aber ich schaute sie an und sagte: »Etwas gibt es. Ich wünschte mir von Euch, daß Ihr Euren Gemahl bittet, den Turm auf Ödholm mit den besten seiner Männer zu besetzen, um dem Streit zwischen Rippon und Shoaks ein Ende zu machen.«
»Was?«
Das eine Wort sprach Bände. Dieser Akzent und dieser Tonfall waren nicht als Lady Grazia gelernt worden.
»Bittet Euren Gemahl, seine Türme gut zu bemannen. Erfüllt mir diesen Wunsch.«
»Weshalb kümmert ein Hundebursche sich um solche Dinge?«
Ihre Frage war zu unverblümt. Wo immer Kelvar sie gefunden hatte, sie war nicht von hoher Geburt oder reich gewesen. Ihr Entzücken, als ich sie erkannte; ihr Einfall, sich mit dem kranken Hund in die vertraute Geborgenheit einer Küche zu flüchten, allein, in eine Decke gewickelt, war kennzeichnend für ein einfaches Mädchen, zu schnell und zu weit über ihre frühere Stellung erhoben. Sie war einsam und unsicher und hatte keine Vorstellung davon, was man von ihr erwartete. Schlimmer, sie wußte um ihre Unzulänglichkeit, und dieses Wissen zehrte an ihr und vergällte ihr die Freuden des neuen Daseins. Wenn sie nicht lernte, den Platz einer Herzogin auszufüllen, bevor ihre Jugend und Schönheit dahin waren, bestand ihre Zukunft aus Jahren der Einsamkeit und Herabsetzung. Sie brauchte einen Mentor, einen heimlichen Lehrer, jemanden wie Chade, aber vielleicht konnte auch ein Rat von mir ihr helfen. Doch ich mußte behutsam vorgehen, denn so viel hatte sie wahrscheinlich gelernt, daß es einer Herzogin nicht geziemte, einen Rat von einem Hundeburschen anzunehmen.
Mir kam eine Erleuchtung. »Ich hatte einen Traum«, begann ich. »Ganz deutlich, wie eine Vision. Oder eine Warnung. Vorhin bin ich mit dem Gefühl aufgewacht, es sei ungeheuer wichtig, sofort in die Küche hinunterzugehen.« Ich ließ meinen Blick in eine unbestimmte Ferne schweifen. Ihre Augen wurden groß. Es war mir gelungen, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. »Ich träumte von einer Frau, die Worte der Weisheit sprach und drei starke Männer zu einem Schutzwall zusammenschmiedete, den die Roten Korsaren nicht zu überwinden vermochten. Sie stand vor ihnen, und Juwelen blitzten in ihren Händen, und sie sagte: ›Laßt die Wachttürme heller strahlen als die
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