Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
ich, meinen Willen gegen die Weisheit jener zu stellen, die vor mir waren? Soll ich in klarer Schrift darlegen, wie ein der alten Macht Teilhaftiger seinen Wirkungskreis vergrößern kann oder ein Lebewesen an sich binden? Soll ich die Einzelheiten der Ausbildung erläutern, die man durchlaufen muß, bevor man als ein der Gabe Kundiger anerkannt wird? Die Heckenmagie und die übrigen Praktiken habe ich nie beherrscht. Habe ich das Recht, ihre Geheimnisse auszugraben und auf Papier zu spießen wie zu Studienzwecken gesammelte Schmetterlinge oder Blätter?
Ich versuche mir vorzustellen, was man mit solchem – wohlfeil erworbenen – Wissen tun könnte, und das führt mich zu der Überlegung, was es mir eingebracht hat. Macht, Reichtum, die Liebe einer Frau? frage ich mich selbstironisch. Weder die Gabe noch die alte Macht haben mir je das eine oder das andere verschafft. Oder falls doch, besaß ich weder den Verstand noch den Ehrgeiz, danach zu greifen.
Macht. Ich glaube nicht, daß mich je um ihrer selbst willen danach gelüstete. Ich wünschte sie mir, wenn ich am Boden lag oder wenn andere, die mir nahestanden, unter der Willkür der Mächtigen leiden mußten. Reichtum. Darüber habe ich nie ernsthaft nachgedacht. Von dem Augenblick an, da ich, sein illegitimer Enkelsohn, König Listenreich Gefolgschaft gelobt hatte, sorgte er für die Befriedigung all meiner Bedürfnisse. Ich hatte reichlich zu essen, mehr Ausbildung, als mir manchmal lieb war, Kleidung für den Alltag und auch ärgerlich modischen Putz und oft genug ein oder zwei Münzen zur freien Verfügung. In Bocksburg aufwachsen, das war Reichtum genug und mehr, als die meisten Jungen in Burgstadt für sich in Anspruch nehmen konnten Liebe? Nun ja. Meine Stute Rußflocke hatte mich gern, auf ihre eigene, stoische Art. Ich besaß die anhängliche Treue eines Hundes, Nosy, und das brachte ihm den Tod. Ein Terrierwelpe schloß mich in sein Herz, und auch er mußte deshalb sterben. Mich schaudert bei dem Gedanken daran, was es kostete, mich zu lieben.
Mein Teil war die Einsamkeit dessen, der in einer Atmosphäre von Intrigen und berückenden Geheimnissen aufwächst, das Außenseitertum eines Jungen, der niemanden hat, dem er sich rückhaltlos anvertrauen kann. Undenkbar, zu Fedwren zu gehen, dem Hofschreiber, der mich für meine Schönschrift und meine sorgsam ausgeführten Illustrationen lobte, und ihm zu gestehen, daß ich bereits Lehrling des Königlichen Meuchelmörders war und deshalb nicht die Laufbahn eines Schreibers einschlagen konnte. Ebensowenig konnte ich Chade, meinem Lehrer in der Diplomatie des Stiletts, anvertrauen, welche grausame Behandlung mir Galen, der Gabenmeister, als seinem Schüler angedeihen ließ. Und mit niemandem wagte ich über meine zu Tage tretende Veranlagung für die alte Macht zu sprechen, die verpönte Tiermagie, die als widernatürlich galt, ein Makel für jeden, der davon Gebrauch machte.
Nicht einmal mit Molly.
Molly stellte für mich das Kostbarste dar, das es auf der Welt gibt: eine wirkliche Zuflucht. Sie hatte nicht das mindeste mit meinem Alltagsleben zu tun. Schon daß sie ein Mädchen war, machte sie zu etwas Besonderem. Ich wuchs fast ausschließlich in der Gesellschaft von Männern auf, nicht nur ohne Mutter und Vater, sondern ohne jegliche Blutsverwandten, die bereit gewesen wären, sich offen zu mir zu bekennen. Als Kind kam ich in die Obhut von Burrich, dem bärbeißigen Stallmeister, früher meines Vaters rechte Hand. Die Stallburschen und Wachsoldaten waren meine Gefährten. Damals wie heute dienten Frauen in der Garde, wenn auch nicht in gleich großer Zahl. Doch wie ihre männlichen Kameraden hatten sie ihre Pflichten und außerhalb des Dienstes ein Privatleben und Familie. Ich hatte kein Recht auf ihre Zeit. Ich hatte keine Mutter, keine Schwestern oder Tanten. Es gab keine Frauen, von denen ich die besondere Zärtlichkeit erfuhr, die angeblich nur Frauen zu geben vermögen.
Keine, außer Molly.
Sie war nur ein oder zwei Jahre älter als ich und wuchs heran wie ein grüner Sproß zwischen Pflastersteinen. Weder die Trunksucht und Brutalität ihres Vaters, eines Kerzenziehers, noch die Anstrengungen, die nötig waren, um den Anschein eines Heims und eines ordentlich geführten Geschäfts aufrechtzuerhalten, konnten sie zerbrechen. Als ich ihr das erste Mal begegnete, war sie so wild und mißtrauisch wie ein junger Fuchs. Molly Blaufleck hieß sie bei den Straßenkindern, wegen der Spuren der Schläge,
Weitere Kostenlose Bücher