Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
bestimmten Stellen waren kleine Kristalle in das Relief eingefügt. Ich vermutete, es handelte sich um Orientierungspunkte. An alles war gedacht worden; kleine Würfel bezeichneten die Buden auf dem Marktplatz. Obwohl nicht mehr heil und vollständig, ergötzte die Miniaturlandschaft das Auge mit ihrer Detailtreue. Ich lächelte, denn ich war überzeugt, falls Veritas nach Bocksburg zurückkehrte, würde es nicht lange dauern, und in seinem Turmgemach gab es einen ähnlichen Tisch mit einer ähnlichen Reliefkarte.
Ohne mich von den Geistern stören zu lassen, nutzte ich die Gelegenheit, den Plan der Stadt zu betrachten und mich zu orientieren. Das Gebäude, in dem ich mich befand, war leicht zu finden. Wie das Pech es wollte, war ausgerechnet dieser Teil des Reliefs von vielen Rissen durchzogen. Trotzdem war ich mir meiner Sache ziemlich sicher, als ich meine Finger den Weg entlangwandern ließ, den meine Füße in der Nacht zurückgelegt hatten. Ich konnte nicht genug staunen über die symmetrische Anlage der Straßen; wie die großen Kreuzungen die Stadt in gleichmäßige Bezirke aufteilten. Das Monument, an das ich mich erinnerte, half mir, den Platz zu identifizieren, an dem ich in der Nacht zuvor ›aufgewacht‹ war. Mein Blick kehrte zu dem Kartenturm zurück, und ich prägte mir sorgfältig ein, wie ich gehen mußte, um dorthin zu gelangen. Wenn ich mich dort umschauen würde, fand ich vielleicht einen Anhaltspunkt, der mir die Erinnerung an den fehlenden Tag zurückbrachte. Ich wünschte mir ein Blatt Papier und eine Feder, um eine Skizze anfertigen zu können, und plötzlich begriff ich, was es mit dem Feuer für eine Bewandtnis hatte.
Veritas hatte einen angebrannten Stock benutzt, um sich eine Karte zu zeichnen. Doch auf was? Ich schaute mich im Zimmer um, aber hier gab es keine Wandbehänge. Die Mauerflächen zwischen den Fenstern waren mit weißen Steinplatten verkleidet, und darauf eingraviert... Ich stand auf, um mir die Sache näher anzusehen. Staunen überwältigte mich. Ich legte die Hand auf den kalten weißen Stein und schaute dann aus dem schmutzigen Fenster daneben. Meine Finger folgten dem Flußlauf, den ich in der Ferne sehen konnte, und ertasteten die glatte Kerbe der Straße, die ihn überquerte. Der Ausblick aus jedem Fenster wiederholte sich auf der Tafel daneben. Winzige Glyphen und Symbole waren vermutlich die Namen von Ortschaften oder Gütern. Ich wischte über die Fensterscheibe, aber der meiste Schmutz befand sich außen.
Also hatte nicht ein Sturm das eine Fenster zerbrochen. Veritas hatte es eingeschlagen, um besser sehen zu können, was dahinter lag. Dann hatte er das Feuer angezündet und einen verkohlten Stock genommen, um – so meine Vermutung – etwas auf die Karte einzuzeichnen, die er aus Bocksburg mitgenommen hatte. Aber was? Ich ging zu dem eingeschlagenen Fenster und musterte die Tafeln links und rechts. Von der linken hatte jemand die Staubschicht versucht abzuwischen. Ich legte meine eigene Hand auf Veritas’ Abdruck. Er hatte diese Tafel notdürftig gesäubert und hinausgeschaut und dann etwas aufgezeichnet. Sein Ziel, was sonst. Ich fragte mich, ob die Gravur auf der Tafel mit irgendeinem Teil der Landkarte übereinstimmte. Wenn ich nur Kettrickens Kopie dabeigehabt hätte!
Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir im Norden die Berge. Von dort war ich gekommen. Ich studierte das Panorama und versuchte anschließend, es mit der gravierten Platte neben mir in Übereinstimmung zu bringen. Die flackernden Geister der Vergangenheit machten das Unterfangen nicht leichter. In diesem Augenblick schaute ich auf dichten Wald, im nächsten auf Äcker und Weiden. Das einzige, was beide Szenerien gemeinsam hatten, war das schwarze Band der Straße, das pfeilgerade den Bergen zustrebte. Meine Finger folgten der Kerbe im Stein. Die Stelle, wo die Straße sich gabelte, war mit einigen Glyphen markiert, und man hatte dort einen kleinen Kristall eingesetzt.
Ich beugte mich vor und studierte aus nächster Nähe die winzigen Zeichen. Entsprachen sie den Zeichen auf Veritas’ Karte? Waren es Symbole, die Kettricken vielleicht zu deuten verstand? Ich verließ das Gemach und eilte die Treppen hinunter, mitten durch die ihren Geschäften nachgehenden Geister hindurch, die immer mehr Substanz bekamen. Ich hörte ihre Worte ganz deutlich und erhaschte Blicke auf die Tapisserien, die einst die Wände geschmückt hatten. Vielfach waren Drachen auf ihnen dargestellt. »Uralte?« fragte ich
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