Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Stich, als die Stadtwache auf ihren schweren Schlachtrossen herandonnerte. Ich sprang zur Seite, um sie vorbeizulassen, und zog bei dem Geräusch der niedersausenden Knüppel unwillkürlich den Kopf ein. Mochte es auch nur ein Spuk sein, ich war froh, die lärmende Auseinandersetzung hinter mir zu lassen. Ich bog nach rechts in eine schmalere Straße ein und passierte drei weitere Einmündungen.
Ich blieb stehen. Hier. Dies war der Platz, auf dem ich in der Nacht zuvor im Schnee gekniet hatte. Der Pfeiler in der Mitte – ich erinnerte mich an ein Monument oder eine Skulptur, die über mir aufgeragt hatte. Ich ging darauf zu. Er bestand aus dem allgegenwärtigen schwarzen, von Kristalladern durchzogenen Stein. Für meine müden Augen schien er das gleiche mysteriöse Unlicht zu verströmen wie die übrigen Gebäude, nur heller. Der Schimmer machte die Glyphen sichtbar, die tief in die Oberfläche der Seiten eingegraben waren. Ich ging langsam um den Pfeiler herum. Manche kamen mir bekannt vor. Vielleicht waren es die Pendants zu denen, die ich früher am Tag aufgezeichnet hatte. War dies also eine Art Wegweiser, beschriftet mit Richtungsangaben gemäß der Bezugspunkte? Ich streckte die Hand aus, um eins der mir bekannt vorkommenden Symbole zu berühren.
Die Nacht schlug Wellen, und vor meinen Augen drehte sich alles. Ich suchte Halt an dem Pfeiler, doch irgendwie griff ich ins Leere, tat ein paar stolpernde Schritte und fiel der Länge nach hin. Eine Weile blieb ich regungslos liegen, die Wange in den verkrusteten Schnee gebettet, und starrte wie blind in die tiefschwarze Nacht. Dann fiel eine warme, schwere Last auf meinen Rücken.
Mein Bruder! begrüßte Nachtauge mich überglücklich. Er bohrte seine kalte Nase in mein Gesicht und tappte mit der Pfote auf meinen Kopf, um mich zum Aufstehen zu bewegen. Ich wußte, du würdest zurückkommen. Ich wußte es!
Kapitel 28
Die Kordiale
Zu dem Geheimnis, das die Uralten umwittert, trägt auch bei, daß die wenigen Darstellungen, die wir von ihnen besitzen, kaum Ähnlichkeit miteinander haben. Dies trifft nicht nur für die Wandteppiche und Schriftrollen zu, bei denen es sich um Faksimiles älterer Werke handelt, in die sich Fehler eingeschlichen haben können, sondern auch für die Bildnisse von Uralten aus König Weises Zeit, die sich in geringer Zahl erhalten haben. Einige davon machen in der Auswahl der Attribute Anleihen bei den Sagen von Drachen: Schwingen, Pranken, Schuppenhaut, riesenhafte Größe. Es gibt auch andere. Auf wenigstens einem Wandteppich ist ein Uralter in menschenähnlicher Gestalt zu sehen, allerdings mit goldener Haut und. hochgewachsen. Die Darstellungen sind sich nicht einmal einig über die Zahl der Gliedmaßen dieser wohlmeinenden Rasse. Sie können bis zu vier Beine haben und ein Schwingenpaar, oder sie haben gar keine Flügel und gehen auf zwei Beinen wie ein Mensch.
Eine Theorie behauptet, über sie gäbe es so wenig Aufzeichnungen, weil das Wissen um die Uralten zu jener Zeit Allgemeingut war. Genau wie niemand sich bemüßigt fühlt, in einer Lehrschrift lang und breit zu erläutern, was ein Pferd ist, weil er sich damit der Lächerlichkeit preisgeben würde, so hat auch damals niemand daran gedacht, daß eines Tages Uralte aus dem Gedächtnis der Menschen verschwinden und zu mythischen Gestalten werden könnten.
Bis zu einem gewissen Grad erscheint diese Theorie logisch, doch man braucht nur die vielen Schriften und bildlichen Darstellungen zu betrachten, die sich mit Pferden als Bestandteil des täglichen Leben befassen, um einen Hebel zu finden, mit dem man sie aus den Angeln heben kann. Wären Uralte wirklich so selbstverständlich gewesen, würde man sie gewiß häufiger erwähnt oder abgebildet finden.
Nach ein oder zwei sehr verwirrenden Stunden fand ich mich in der Jurte wieder mit meinen Reisegefährten vereint. Nach einem beinahe frühlingshaften Tag in der Stadt erschien mir die Nacht in den Bergen um so kälter. Wir alle hatten uns in unsere Decken gehüllt, während wir uns gegenseitig über das Geschehene ins Bild setzten. Sie erzählten mir, ich wäre in der vergangenen Nacht von der Kante des Abbruchs verschwunden, und ich berichtete ihnen von meinen Erlebnissen in der Stadt. Beiderseits gab es ein gewisses Maß an Skepsis. Ich fühlte mich einerseits gerührt, andererseits schuldbewußt wegen der Verzweiflung, in die mein Verschwinden sie gestürzt hatte. Merle hatte offensichtlich geweint, während Krähes
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