Die Legenden der Vaeter
Zeilen. Er bittet darum, Józef Koźlik, den Sohn von Augustyn Koźlik, geboren am 17. Februar 1925, bei der nächstmöglichen Gelegenheit zu verhaften und nach Kattowitz zu bringen. Doch erst einmal passiert ein halbes Jahr lang gar nichts. Aktenkundig wird Józef erst wieder im Februar 1953, als es an einem Samstagabend in der Kneipe der Genossenschaft zu einer Schlägerei kommt. Verletzt wird niemand, aber Tische und Stühle gehen zu Bruch. Einer der Spitzel weist darauf hin, dass Józef immer mehr trinke. Nüchtern, heißt es, sei er ein sympathischer Zeitgenosse, unter dem Einfluss von Alkohol allerdings werde er ausfallend und aggressiv.
Der nächste Eintrag ist von Donnerstag, dem 6. März 1953, einen Tag nachdem Stalin in Moskau an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben ist. Es ist nicht belegt, was im Einzelnen passiert ist, aber aus den Anmerkungen in der Akte geht hervor, dass Józef in einer Kneipe in Oppeln lauthals |194| seine Freude über den Tod des sowjetischen Machthabers kundgetan hat. Als Gäste versuchen, ihn zur Ruhe zu bringen, beginnt er wild um sich zu schlagen und das Mobiliar zu demolieren. Die Polizei schreitet ein, Józef wird verhaftet und vor Gericht gestellt. Die Anklage lautet auf »Sachbeschädigung« und »volksfeindliche Hetze«. Er wird zu drei Monaten Haft verurteilt, die er im Gefängnis von Oppeln absitzt.
Jetzt hat der Sicherheitsdienst Zugriff auf ihn. Im April 1953, vier Wochen nach seiner Verhaftung, erstellt die Dienststelle in Lublinitz eine lange Liste mit Fragen, die bei einem Verhör abgearbeitet werden sollen. Beschuldigungen haben sich in den letzten zwei Jahren genug angesammelt, die gefälschten englischen Papiere, die er sich angeblich besorgen wollte, zusammen mit einer Abhörausrüstung, sein Vorhaben, Informationen an das französische Konsulat in Kattowitz zu verkaufen, der geplante Bankraub, die Partisanen in Tschenstochau. Darüber hinaus sollen die unstimmigen Angaben in seinem Lebenslauf geklärt werden, wann und unter welchen Umständen er in die Wehrmacht eingetreten ist, ob er 1939 tatsächlich auf deutscher Seite am Feldzug gegen Polen beteiligt war, wann er zu den Briten übergelaufen ist und welche Art von Ausbildung er in England bekommen hat.
Das Verhör findet nie statt. Irgendjemand beim Sicherheitsdienst muss begriffen haben, dass Józef kein Spion und Staatsfeind ist, sondern ein Querulant, der zu viel trinkt. Als er im Juni 1953 aus dem Gefängnis entlassen wird, hat er einfach nur seine Stelle in Oppeln verloren. Er kehrt heim, um wieder bei seiner Mutter zu wohnen, und wenn er in die Kneipe der Genossenschaft geht, spricht er nicht mehr über |195| konspirative Treffen mit ausländischen Agenten, sondern nur noch über die goldene Taschenuhr, mit der er sich eines Tages seine Rückfahrt nach Deutschland erkaufen wollte, zu seiner Frau und seinem Sohn. Die Uhr ist ihm im Februar bei der Schlägerei in der Kneipe abhandengekommen. An schlechten Tagen beschuldigt er seine Trinkkumpane der Reihe nach, sie ihm gestohlen zu haben, bis der Wirt ihn vor die Tür setzt.
In den Briefen an meinen Vater hatte Józef geschrieben, dass er »Baumeister« sei. Das altertümliche deutsche Wort hat sich im oberschlesischen Dialekt bis heute erhalten und kann offenbar alles heißen, Maurer, Bauingenieur oder sogar Architekt. Tatsächlich hat Józef nie einen Beruf gelernt. Vor dem Krieg war er zu jung, dann kamen der Reichsarbeitsdienst und die Wehrmacht. Auf den Baustellen in Oppeln und im Umland hat er nur als Handlanger gearbeitet. Er ist mit Mörteleimern über schmale Gerüste balanciert, er hat Steine geschleppt, Zementsäcke von Lastwagen geladen und Stahlträger gewuchtet.
Im Sommer 1953 fängt er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis auf einer Großbaustelle in Tschenstochau an. Auch hier werden Wohnsiedlungen gebaut. Józef hatte bereits in Oppeln beobachtet, wie die Arbeiter unter der Hand Geschäfte machten. Werkzeuge verschwanden, Hämmer, Kellen, Helme, Schubkarren, und ganze Wagenladungen mit Steinen, Schalbrettern und Dachziegeln wurden über Nacht abtransportiert. In Tschenstochau findet auch Józef einen Weg, seinen Lohn aufzubessern. Zusammen mit Piotr, einem Kollegen aus Lublinitz, streckt er Beton mit Sand und Kies und schafft im großen Stil Zement beiseite. Sie fliegen |196| auf, und vermutlich wäre Józef sofort wieder im Gefängnis gelandet, wenn der Bauleiter nicht Angst vor einer Materialprüfung gehabt hätte. In den
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