Die Legenden der Vaeter
kommen, legen nach dem Ende ihrer Schicht in der Textilfabrik eine Pause ein und tauschen Neuigkeiten aus. Józef gehört zu den Stammgästen, und er findet immer wieder jemanden, der sich einen Wodka spendieren lässt, um sich dann geduldig seine Geschichten aus dem Krieg und aus den Jahren danach anzuhören.
In Polen wird in der Öffentlichkeit nicht über die Exilarmee gesprochen. Trotzdem ranken sich jede Menge Legenden um die Soldaten, die an der Seite der Amerikaner und Engländer gegen die
hitlerowie
gekämpft haben. Jeder in Polen hat vom Schicksal der Fallschirmjäger gehört, die von den Briten bei Arnheim als Kanonenfutter benutzt wurden, und Józef steuert die Geschichten bei, die er in den Pubs in Ringway aufgeschnappt hat. Er erzählt vom Trommelfeuer in Arnheim und den hastig zusammengezimmerten Booten, in denen die Fallschirmjäger bei Nacht den Rhein überquert haben, so als wäre er tatsächlich dabei gewesen, und prahlt mit angeblich streng geheimen Details über seine Ausbildung, Nahkampf, Sabotage, gefälschte Dokumente, transportable Funkstationen. Das meiste davon hat er in Ringway von einem Feldwebel gehört, der tatsächlich in Arnheim gekämpft hatte und den Kummer über seine gefallenen Kameraden im Bier ertränkte. Von ihm stammt auch die Anekdote von dem Spieß, der ein Bataillon Fallschirmjäger während der Ausbildung gezwungen hatte, die Fassade der Kaserne hinaufzuklettern und die Unterkunft grundsätzlich nur über die Fenster im ersten Stock zu betreten. Diese Geschichte macht Józef jetzt ebenfalls zu seiner eigenen Erinnerung: »Wer die Tür nahm und erwischt wurde, zahlte sechs Pence Strafe.«
Die Lügen über seine Heldentaten kommen Józef immer |186| leichter über die Lippen. Wenn er genug getrunken hat, holt er die Fotos aus Fürstenau hervor, senkt die Stimme und erklärt seinem Gegenüber, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis er Polen wieder verlassen werde, um zurück zu seiner Familie nach Deutschland zu gehen. Doch in der Kneipe der Genossenschaft trinken nicht nur Bauern und Arbeiter, sondern auch Parteifunktionäre und Gewerkschaftler, die sich in einem der Zimmer im oberen Stock zum Kartenspielen treffen. Es dauert nicht lange, bis sie auf Józef aufmerksam werden. Ein Arbeitsloser, der in einem neuen Anzug in einer Kneipe sitzt und mit Geld um sich wirft, ein ehemaliger Angehöriger der Exilarmee, der ständig mit dem Zug unterwegs ist, um alte Bekannte aus dem Krieg aufzuspüren, das ist im Polen des Jahres 1951 verdächtig. Zwei Jahre nach seiner Verhaftung in Stettin gerät Józef ein zweites Mal ins Visier des Sicherheitsdienstes.
|187| D er polnische Sicherheitsdienst war bereits 1944 gegründet worden. Nachdem Stalin im Sommer jenes Jahres eine erste provisorische Regierung unter kommunistischer Führung in Polen etabliert hatte, wurde eine Geheimpolizei nach dem Vorbild des sowjetischen NKWD aufgestellt, die mit brutaler Härte die neuen Machtverhältnisse durchsetzte. Mehr als eine Million Menschen wurden vom
Urząd Bezpieczeństwa
zwischen 1944 und 1956 beobachtet, inhaftiert, verhört und gefoltert. Fünftausend Todesurteile wurden vollstreckt und darüber hinaus vermutlich fast zwanzigtausend weitere Menschen umgebracht. Die Akten sind in Teilen erhalten geblieben. Das
Instytut Pamięci Narodowej
, kurz IPN, das Institut für nationales Gedenken, wertet seit den späten neunziger Jahren den Bestand aus. Die Opfer haben das Recht, ihre Akten einzusehen, und wenn sie nicht mehr leben, geht dieses Recht auf ihre nächsten Verwandten über, im Fall von Józef Koźlik, hatte ich gedacht, also auch auf mich. Doch ganz so einfach war das nicht.
Ich fuhr nach Stettin, um in einer der Zweigstellen des IPN einen Antrag auf Akteneinsicht zu stellen. Die Fahrt dauerte gerade einmal zwei Stunden, so dass ich bereits am späten Vormittag vor der ehemaligen Kaserne stand, in der das Institut untergebracht war. Die Mitarbeiterin, die mich in Empfang nahm, war eine junge Frau, die perfekt Deutsch |188| sprach. Ihre Großeltern waren vor dem Krieg in Stettin aufgewachsen, als die Stadt noch zu Deutschland gehörte.
Auf einem Blatt Papier hatte ich zusammengetragen, was ich bisher über Józef in Erfahrung gebracht hatte, sein Geburtsdatum, seine Kindheit in Groß Stanisch und Siemianowitz, der Umzug der Familie nach Steblau, das Jahr in der Wehrmacht, die angebliche Desertion und der Wechsel in die Exilarmee, die Zeit als Besatzungssoldat in Fürstenau, die
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